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Aus: Ausgabe vom 20.07.2024, Seite 7 / Ausland
Konflikt in Osteuropa

Kiew beklagt Alleingänge

Ukraine: Selenskij droht Ungarn und Slowakei wegen deren Friedensinitiative. Russisch-US-amerikanische Geheimsondierungen auf Expertenebene
Von Reinhard Lauterbach
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Auf allen Kanälen: Selenskij fordert im BBC-Interview westliche Kampfflugzeuge ein (London, 18.7.2024)

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat alle Partner seines Landes aufgefordert, nicht hinter dem Rücken der Ukraine über mögliche Friedensbedingungen zu verhandeln. Bei einem Besuch in Großbritannien nannte er insbesondere Ungarn, dessen Regierungschef Viktor Orbán vor kurzem solche Gespräche in Kiew, Moskau und Beijing geführt hatte, und die Slowakei, deren Ministerpräsident Robert Fico seine politische Unterstützung für die Initiative Orbáns erklärt hatte. Selenskij sagte, die Ukraine habe als Reaktion den Transit russischen Erdöls in beide Länder unterbrochen.

Im übrigen beschwerte sich Selenskij in einem Interview mit der BBC darüber, dass sein Land seit 18 Monaten westliche Kampfflugzeuge fordere und noch keines bekommen habe. Die Lieferung der ersten sechs »F-16«-Flieger ist für »das Ende des Sommers« angekündigt; weitere 20 sollen bis Jahresende folgen. Die BBC kritisierte in einem unter dem Interview veröffentlichten Text die BRD dafür, dass sie im Haushaltsentwurf 2025 die Militärhilfe für Kiew von acht auf vier Milliarden Euro reduziert habe. Damit liegt Berlin allerdings immer noch vor Großbritannien, das Kiew für 2025 drei Milliarden US-Dollar (etwa 2,76 Mrd. Euro) zugesichert hat. In dem Interview räumte der ukrainische Staatschef allerdings erstmals indirekt ein, dass es nicht möglich sein könnte, alle verlorenen Territorien auf militärischem Wege zurückzuerobern und den Krieg erst dann zu beenden.

Derweil mehren sich in den USA die Stimmen, die die bedingungslose Unterstützung des Westens für die Ukraine kritisieren. Zwei Militärexperten schrieben auf den Seiten von Politico, die NATO-Perspektive für das Land verlängere den Krieg, weil sie dem wichtigsten Kriegsziel Russlands widerspreche und in der Ukraine nichts wecke als trügerische Hoffnungen. Von leichter Torschlusspanik zeugt dagegen ein Anfang Juli veröffentlichter Text in der Fachzeitschrift Foreign Policy. Die Autorin Mary Elise Sarrotte plädiert dafür, dass Kiew zeitnah entscheiden solle, auf welche Gebiete es zumindest vorübergehend verzichten könne, wenn dafür der Reststaat beschleunigt in die NATO aufgenommen würde – möglichst noch vor einem russischen Durchbruch an der Front und der Amtseinführung eines möglichen Wahlsiegers Donald Trump. Als Beispiel für eine solche Strategie nannte sie unter anderem die Aufnahme von nur Westdeutschland in die NATO, das im Gegenzug die Rückgewinnung der DDR auf unbestimmte Zeit verschoben und sie letztlich doch bekommen habe. Als zweites Beispiel nannte sie jedoch auch das NATO-Gründungsmitglied Norwegen, das sich vorbehalten habe, keine Infrastruktur des westlichen Kriegsbündnisses auf seinem Boden aufzunehmen, solange das Land nicht angegriffen werde. Dies nähert sich durch die Hintertür einer russischen Forderung an, die Moskau in seinem letzten Verhandlungsangebot Ende 2021 an die Allianz gestellt hatte.

Ohne erkennbare Ergebnisse blieben offenbar Konsultationen zwischen regierungsnahen Experten aus Russland und den USA in New York vor einigen Tagen. Wie der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, hatte Moskau die US-Vertreter aufgefordert, sich für die Aufhebung der die russische Sprache diskriminierenden Gesetze der Ukraine einzusetzen. Die US-Seite habe dies abgelehnt, weil die Sprachpolitik eine innere Angelegenheit der Ukraine sei, in die sich die USA »nicht einmischten«.

In der ukrainischen Öffentlichkeit hält unterdessen die Welle der Kritik an der militärischen Führung an. Jüngster Anlass dafür ist, dass die Ukraine den seit vorigen Herbst gehaltenen Brückenkopf auf dem linken Dniproufer nahe Cherson inzwischen unter hohen Verlusten wieder hat räumen müssen. Bei der Datschensiedlung Krynki hatte er als Ausgangspunkt für einen Vorstoß auf die Krim dienen sollen. Wie jetzt ukrainische Medien berichteten, sind bei der militärisch sinnlosen Aufrechterhaltung mindestens 1.000 Soldaten gefallen oder als vermisst gemeldet worden. Praktisch niemand sei ohne Verwundungen zurückgekommen. Es hat offenbar auch etliche Fälle von Befehlsverweigerung durch Soldaten gegeben, die sich nicht in den sicheren Tod schicken lassen wollten. Vom akuten Personalmangel der ukrainischen Armee zeugt ein in dieser Woche ins Kiewer Parlament eingebrachter Antrag. Er soll die Strafen für »unerlaubte Entfernung von der Truppe« senken, wenn die betreffenden Soldaten sich verpflichten, ihren Dienst fortzusetzen.

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die Ukraine habe den Transit russischen Gases in beide Länder unterbrochen. Es handelt sich aber um den Öltransfer. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. (jW)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (20. Juli 2024 um 15:41 Uhr)
    … Schon interessant, wie sich die USA selektiv nicht in innere Angelegenheiten anderer Länder einmischen …
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (19. Juli 2024 um 21:11 Uhr)
    Fürwahr, die letzte Bemerkung ist bemerkenswert. Wenn die Jungs in den Führungsetagen selber nicht mehr an ihren Krieg glauben, keimt Hoffnung.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (19. Juli 2024 um 20:41 Uhr)
    Die faszinierende Tatsache, dass die Ukraine noch immer russisches Gas in NATO-Länder befördert (und, wenn ich mich nicht irre, dafür weiterhin zuverlässig von Russland bezahlt wird), wäre mal eine genauere Betrachtung wert. Jetzt erpresst Kiew also wieder die Empfängerländer jenseits der Westgrenze. Die wurden ja schon früher von der Ukraine als Geisel genommen, weil man zwar keine Freundschaft mehr mit Russland wollte, aber weiter Gas zum Freundschaftspreis. Nord Stream sollte für den Westen der Ausweg sein, aber so mancher wollte sich hierzulande gerne das Gas von Selenskij abdrehen lassen, wenn es nur die Russen ärgerte. Also bumm.

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