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Aus: Ausgabe vom 22.07.2024, Seite 8 / Ansichten

Historische Entscheidung

IGH-Gutachten zur israelischen Besatzung. Gastkommentar
Von Norman Paech
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Verbrannte Fahrzeuge nach Angriffen von Siedlern auf das palästinensische Dorf Al-Mughajir in der besetzen Westbank (17.4.2024)

Dieses Gutachten sollte niemand überraschen. Jede und jeder in Regierung, Parlament und Medien konnte seit Jahren wissen, dass Israels Besatzung mitsamt den Siedlungen illegal ist. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hatte schon in einem Gutachten von 2004, in dem der Bau der Mauer für unzulässig erklärt wurde, sowie er auf palästinensisches Gebiet übergreift, keinen Zweifel an der Rechtswidrigkeit von Besatzung und Siedlungsbau gelassen.

Nun aber ist der IGH auf Grund der Fragen, die ihm die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2022 gestellt hatte, noch deutlicher und präziser geworden. Die Besatzung sei das Produkt »systematischer Diskriminierung, Segregation und Apartheid«, eine »De-facto-Annexion«. Die israelische Regierung müsse sofort alle Siedlungsaktivitäten stoppen und die Siedler aus den bestehenden Siedlungen evakuieren sowie die »Rückkehr aller Palästinenser, die während der Besatzung vertrieben wurden, an ihren ursprünglichen Wohnort« ermöglichen. Israel habe für alle Schäden, die alle »natürlichen und juristischen Personen« durch die Besatzung erlitten hätten, Entschädigung zu leisten. Zudem wiederholt das Gericht seine Forderung von 2004 nach Rückbau der Mauer auf israelisches Territorium.

Da der Auftrag zum Gutachten vor dem 7. Oktober 2023 erteilt wurde, geht der Gerichtshof nicht auf den Krieg in Gaza ein. Er erklärt jedoch den Gazastreifen als faktisch von Israel besetztes Gebiet trotz des 2005 erfolgten Abzugs von Armee und Siedlern. Ausschlaggebend sei die Kontrolle Israels über den Landstreifen.

Netanjahu hat das Gutachten sofort als »absurd« bezeichnet und erklärt, ihm nicht Folge zu leisten: »Das jüdische Volk ist kein Besatzer in seinem eigenen Land, auch nicht in unserer ewigen Hauptstadt Jerusalem oder in Judäa und Samaria, unserer historischen Heimat.« Nun wird es noch enger für Israels engste Verbündete USA und BRD, diese realitätsferne und rechtswidrige Fiktion weiter zu unterstützen. Denn der IGH hat auch festgestellt, dass alle Staaten und internationale Organisationen, einschließlich UN-Generalversammlung und Sicherheitsrat verpflichtet sind, die Besatzung als nicht legal anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung für ihre Aufrechterhaltung zu leisten.

An ihnen allen liegt es nun, diese Forderungen, für die der IGH eine solide höchstrichterliche Basis geliefert hat, politisch gegenüber Israel durchzusetzen. Dabei gilt es vor allem, die kleine Hintertür zu schließen, die das Gutachten gelassen hat, indem es den Rückzug aus den besetzten Gebieten nur »so schnell wie möglich« fordert. Der IGH hat die Staaten in die Pflicht genommen, den über fünfzig Jahren Unterdrückung, Landraub und Apartheid in Palästina die Unterstützung zu entziehen und zu beenden. Das ist nicht neu und nicht verbindlich, aber dennoch eine historische Entscheidung.

Norman Paech ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (22. Juli 2024 um 11:55 Uhr)
    In den meisten deutschen Massenmedien fand dieses Urteil bisher nur kurz Erwähnung, obwohl es eindeutig die Wurzel des palästinensisch-israelischen Konflikts beschreibt. Seitdem wird darüber geschwiegen, während gleichzeitig jeder »propalästinensische« Protest – den es ohne die völkerrechts- und menschenrechtsverletzende israelische Besatzung der Palästinensergebiete gar nicht gäbe – zur antisemitischen Ausschreitung verzerrt und skandalisiert wird. Keine offiziellen Stellungnahmen des Bundeskanzlers und der Außenministerin, keine Besprechungen und Diskussionen in den großen Tageszeitungen und Magazinen, kein »ARD-Brennpunkt«, kein »Maybrit Illner«, keine Sondersendungen zum Thema, im Gegensatz zu anderen, weniger bedeutsamen Entscheidungen internationaler Gerichte. Es wird einfach darüber geschwiegen. Man geht darüber hinweg und macht Business as usual. Der Tagesspiegel bat zusätzlich zur Nachrichtenmeldung noch einen deutschen Völkerrechtler um einen bewertenden Kommentar, welcher das Urteil voll und ganz bestätigte. Bei der Frankfurter Rundschau beließ man es bei der einmaligen Meldung, mit dem Titel: »Besatzung illegal – UN-Gericht bringt Israel in Misskredit« (!). In demselben Text wurden unmittelbar daran anschließend die zerstörerischen Angriffe der Huthi und der Hisbollah auf israelisches Territorium beschrieben, so als würden diese Israels Besatzungspolitik in irgendeiner Weise relativieren.

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