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Aus: Ausgabe vom 22.07.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Der bessere Terror

Möglichkeiten sind teuer: »wrong« von Rainald Goetz
Von Ken Merten
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Will nicht noch freundliche Worte zum Strafzettel: Staatsfeind Goetz

Falls nicht doch ein Fiebertraum, der sich als Erinnerung tarnt, dann gibt es da eine Reportage über Walter Kempowski (1929–2007), für die ein Kamerateam den Autor in seinem Haus im niedersächsischen Nichts besuchte. Kempowski hielt dabei stolz einige Exponate der Ü- Eier-Figuren vor die Linse, die er in seinen Bücherregalen stehen hatte, und begann, über seine Plastespielzeugsammlung zu klönen. Es wurden schon weniger kauzige Menschen dem Altenheim übergeben.

Auch bei Rainald Goetz, der im Mai 70 wurde, geht es oftmals um Randerscheinungen, Klimbim, Ephemeres. Schreibt der gelernte Arzt über elektronische Musik, Medien und vergleichsweise unspektakuläre Grundgesetzänderungen, die darauf abzielen, dass dieses oder jenes nicht mehr auf Papier gedruckt werden muss, dann steckt dahinter allerdings das Begehren, die Gesellschaft zu sezieren; und eine Sektion beginnt man eben an der Oberfläche, indem man das Skalpell an der Haut ansetzt.

Der Schnitt

Goetzens Phänomene verhalten sich in etwa so zu Kempowskis Ü-Eier-Inhalten, wie der Schnitt durch die eigene Stirn 1983 beim Wettlesen im österreichischen Klagenfurt von Goetz zum Abrasieren einer Kurzhaarfrisur als Solidaritätsbekundung für die iranischen Frauenproteste bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises vor zwei Jahren an Kim de l’Horizon. Das Einreihen in einen Internettrend, bei dem deutsche Schauspielerinnen ein paar ihrer Splisssträhnen als sich selbst verdingende Grußgesten opferten, machte die Solidaritätsadresse zur Posse, während die Verkörperung des Vorgelesenen beim Bachmannpreis (»Ihr könnts mein Hirn haben. Ich schneide ein Loch in meinen Kopf«) als symbolbiopolitischer Selbstverletzungsanschlag gegen die Hochkulturindustrie genau das ausrichtete, was Literatur überhaupt ausrichten kann: einen Verweis über das Gegebene hinaus auf das Mögliche. Literatur arbeitet mit dem Möglichen, und das teure Blut, das da auf die Manuskriptseiten tropfte, verwies zurück auf die Literatur, das Teure, das Mögliche in der aus Unmöglichkeiten gebauten Gesellschaft. Die Kopfrasur de l’Horizons dagegen ging nicht nur performativ vom mit dem Buchpreis nicht zu Unrecht bedachten Roman »Blutbuch« ab; es war die Wiederholung dessen, was man ein Jahr zuvor in einem Live­stream mit ansehen konnte, als DJ David Guetta sich unmöglich machte und während seines Set einen Tribute an den ermordeten George Floyd rausshoutete. Mitleid kann so billig zu haben sein, ein Plastespielzeug.

Rainald Goetz beließ es klugerweise bei dem einen Schockmoment als Ursprungsmythos. Er schrieb aber weiter. Mit »wrong« ist der sechste und letzte Teil seines Projekts »Schlucht« erschienen, parallel zu »Lapidarium«, einem Kompendium dreier seiner Stücke. »wrong« beinhaltet »Textaktionen«: Interviews, Rezensionen, Paratexte und Sekundärliteratur zu seinen eigenen Werken. Goetz bespricht darin unter anderem Michel Houellebecqs Roman »Die Möglichkeit einer Insel« (2005). Spannend natürlich, was der Luhmannianer Goetz, der seine politische Sozialisation zeitweise in der Gegenstandpunkt-Vorgängerorga, der Münchner »Marxistischen Gruppe« erfuhr, vom französischen Depressionsreaktionär und dessen Texten so hält. Letztlich aber hat auch hier das bürgerliche Subjekt einen Spiegel gesucht und gefunden. Man vermeint herauszuhören, Goetz schreibe in »Elend der Liebe« über seine eigene Schreibe, wenn »Houellebecq auf die Beiläufigkeit und Alltäglichkeit seiner Sprache genauso viel Wert legt wie auf die mittlere Durchschnittlichkeit seiner Helden«; dann »entsteht ein zugleich traditioneller und hochmoderner Realo-Stil des Erzählens«. Es sei »der unprivilegierte Blick«, wie Goetz es nennt, den Houellebecq hat. Und den Goetz trotz der politischen Schlucht zwischen beiden durchaus teilt. Auch wenn er vor seinem Deutsch zu fliehen versucht (im Gespräch mit dem Publikum nach der Aufführung von »Baracke«: »Es ist fürchterlich, eine eigene Stimme zu haben.«), ist es doch eine so eindeutig mit Marke versehene Sprache, wie man es sonst nur noch von Texten kennt, die Elfriede Jelinek verfasst hat.

Bei Goetz taucht man mal ab ins Reich der Theorie, dabei bleibt die Fachsprache aber meist arm dran. Statt dessen werden Anglizismen eingestreut, die von einem MTV-Moderator stammen könnten. Der Satzbau ist simpel, dazu kommen Idiosynkrasien, wenn die »Schrift« etwa »niederdrückt und energieifiziert«. Schreibt er verquast, dann aus Selbstschutz, weil er, wie in seinem Arbeitsjournal »Moral Mazes« (2019) zwar sehr Richtiges über die »MeToo«-Bewegung sagt (»Es wird also heller durch MeToo, die Kaputtheit der Welt wird weniger und der Stress der Mitmenschlichkeit mehr«), dabei aber Inhalt und Message wegen schon zu nah an den moralistischen Zeitungskommentar gerät, den er nicht schreiben will. Streit aber will er, und wie all jene, die Stress suchen, teilt er gern aus und steckt ungern ein.

Goetz radelt

Seine Stirn lässt er heile, wenn er vor dem Berliner Wissenschaftskolleg referiert. Sein Vortrag »Soziale Energie« aus dem Februar vergangenen Jahres fußt auf einem Ungehorsam, der unspektakulärer und alltäglicher nicht sein könnte: Goetz radelt durch seinen Wohnort Berlin und überquert eine freie Straße, trotz dessen ihm ein Leuchtsignal das Warten befiehlt. Ein Angriff auf den Staat und insbesondere auf die selbsternannte Fortschrittsregierung. Die verwaltet den »Kampf um Raum« paternalistisch bzw. maternalistisch. Die Polizistinnen, die den Übeltäter stellen, bringen beim Austeilen des Strafzettels ein Verständnis entgegen, das Goetz zuwider ist, ging es ihm ja durchaus um die Nichtbeachtung einer abstrusen Regelung, die an der Kreuzung Friedrich- und Torstraße den Radverkehr eher behindert, als ihn zu ermöglichen. Die Bürokratie, das Nettsein beim Maßregeln und die Reduktion der umweltschädlichen Zettelwirtschaft der Ampelregierung attackiert Goetz als entsprechende Form der Ausübung von Zwang und Herrschaft, »damit die Fahrradfahrer noch besser terrorisiert werden können« – und eben nicht nur die.

Rainald Goetz: wrong. Textaktionen. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 367 Seiten, 24 Euro

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