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Aus: Ausgabe vom 22.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Comic

Ein Gespenst in Schwarz

Zoe Thorogoods lesenswerte Autobio-Graphic-Novel über ein Leben mit Depressionen
Von Marc Hieronimus
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Leicht gesagt: Den Humor nicht verlieren

Die Zahlen sind eindeutig. Psychische Erkrankungen nehmen in einem Ausmaß zu, das sich durch Begleitfaktoren wie veränderte Erhebungsverfahren, offenerer gesellschaftlicher Umgang oder demographische Veränderungen nicht wegerklären lässt. Laut Statista hat sich die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen in Deutschland im letzten Vierteljahrhundert nicht weniger als vervierfacht. Seelenleiden sind der drittwichtigste Grund für Arbeitsunfähigkeit. Die Auswirkungen der Coronaängste und -maßnahmen zumal auf junge Menschen lassen sich kaum erst erahnen.

Schon vor 2020 erkrankten drei bis zehn Prozent aller Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren an einer Depression, schreibt die Deutsche Depressionshilfe. Bei Destatis ist zu lesen, dass die Zahl der vollstationär behandelten 15- bis 24jährigen 2015 siebenmal so hoch war wie 2000. Ein halbwegs gelungener Comic über Depression darf also auf einige Aufmerksamkeit hoffen.

Aber wie sollen Autoren es anstellen, etwas Lesbares und Unterhaltsames über eine so unnötige und unspektakuläre Erkrankung zu schaffen? Körperlich kerngesunde Menschen ohne Leid und Sorgen und »in der Blüte ihres Lebens«, wie man hier klischeefrei formulieren darf, ritzen an sich herum, isolieren sich, kriegen den Arsch nicht hoch, sind ihren fürsorglichen Mitmenschen eine schwere, dauerhafte Last, erleben ihre äußerlich denkbar komfortable Lage aber als ganz persönliches Schicksal von geradezu biblischer Tragik. Wenn nicht immer mal wieder eine junge Depressive ihrem Leben aus Verzweiflung und Selbstsucht ein Ende setzte, müsste man über die bescheuerte Krankheit lachen.

Zoe Thorogood ist depressiv und sich all dessen bewusst. Ihre »Autobio-Graphic Novel über das Leben mit Depressionen« ist witzig und spannend, obwohl nicht viel passiert. Die Comic-Zoe ist mal realistisch als hübsche junge Frau, mal mangahaft als kleines Mädchen, oft als Mondgesicht gezeichnet, umgeben von Menschen mit Tierköpfen und verfolgt von einem grinsenden Gespenst in Schwarz. Thorogood hinterlegt ihre Zeichnungen am Computer mit Farben, häufiger mit grob gerasterten Grautönen, ab und an flicht sie Fotos ein. Eine Seite kann bis zu zwanzig, aber auch nur ein einzelnes Panel enthalten, mal ist die Seitenaufteilung symmetrisch-ruhig, mal hektisch-verzerrt. Zwischen den Bildern liest man Mailkorrespondenz, nachhallende Aussprüche in bunten Lettern und vor allem auktoriale Kommentare in Maschinenschrift, als beschriebe die Autorin das Leben einer anderen Person.

Das ist gewiss nicht »die Zukunft des Comics«, wie ihr nach ihrem Erstling »The Impending Blindness of Billie Scott« versichert wurde, hält die Leserin aber bis zuletzt bei der Stange. Irgendwie so wird es sich anfühlen, als junge Frau ohne äußeren Anlass depressiv zu sein. Und wie gesagt: Viel passiert nicht. Eine Comicmesse wird coronabedingt abgesagt, es gibt ein paar Rückblicke in die Jugend ohne traumatische Erlebnisse, eine Freundin mit Vogelkopf trinkt zu viel. Das Aufregendste ist noch ein Trip zu einer Mailbekanntschaft in den USA. Nach Pizza und Drogen landen die beiden im Bett, aber der Bekannte hat Kinder, eine Ex, über die er nicht hinweg ist und außerdem eine ansteckende Geschlechtskrankheit. Zoe nimmt es mit Humor.

»It’s Lonely at the Centre of the Earth« sollten alle düster gestimmten Jugendlichen gründlich durcharbeiten – ebenso wie ihre Angehörigen. Die gesundheitlich Betroffenen sehen, dass sie nicht alleine sind und ihre Erkrankung auch ihre lustigen Seiten haben kann und haben sollte. Die Verwandten und Freunde lernen, dass Depression auch viel mit Gefühlen von Fremdheit, Falschheit und Einsamkeit zu hat und der richtige Umgang mit ihr mehr im Versuch des unbekümmerten Mitlebens als im besorgten Mitleiden liegt. Depressive sind nicht zuletzt anstrengend, weil sie ihrem Umfeld die Energie rauben. Man darf sich nicht nach unten ziehen lassen, weder von der eigenen, noch von der Depression des anderen.

Zoe Thorogood: It’s Lonely at the Centre of the Earth. Eine Autobio-Graphic-Novel über das Leben mit Depressionen. Cross-Cult-Verlag, Ludwigsburg 2024, 192 Seiten, 25 Euro

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  • Leserbrief von N. Schreiber aus München (23. Juli 2024 um 03:56 Uhr)
    Schon wirklich krass heftig … Ich zitiere mal in Bezug auf an Depressionen Leidende den Autor: – »kriegen den Arsch nicht hoch« – »erleben ihre äußerlich denkbar komfortable Lage« – »(erleben) persönliches Schicksal von geradezu biblischer [!] Tragik« – »Wenn nicht immer mal wieder eine [!] junge Depressive ihrem Leben aus […] Selbstsucht [!!] ein Ende setzt« – »müsste man über die bescheuerte Krankheit lachen« – »[die] Erkrankung auch ihre lustigen Seiten haben kann« – »Man darf sich nicht nach unten ziehen lassen, […] von der eigenen […] Depression« Sorry, aber das gehört mit zur krass-blödesten, anmaßendsten, respektlosesten und verachtenswertesten Boomer-Scheiße, die ich je zum Thema gelesen habe. Und nein, eine etwaige Ausrede von wegen »ironischer Humor« kann mensch in diesem Rahmen auch nicht gelten lassen. An den von mir nicht zitierten Stellen ist zwar ein Bemühen des Autors um Verständnis erkennbar, aber offenbar war dieses Bemühen fast völlig vergebens. Also so gut scheint der Comic dann wohl nicht zu sein, dass er jeder:m zu empfehlen wäre (?)  … Aber wenn ich mich richtig erinnere, ist das ja nicht der erste unfassbar unqualifizierte (und auch absolut un»unterhaltsame« / unlustige) Beitrag von ihm … Von daher tue ich Zoe, der Comicautorin wahrscheinlich Unrecht. Bei manchen ist halt einfach Hopfen und Malz verloren.
    • Leserbrief von Hans Wiepert aus Berlin (23. Juli 2024 um 19:51 Uhr)
      Hallo, die Ausführungen von Herrn Hieronimus kann man in der Tat als zumindest flapsig/unglücklich empfinden. Vielleicht erklärt sich der Autor da noch mal. Aber weshalb meinen Sie, dass diese Wortwahl »Boomer-Scheiße« sei, also pauschal auf eine (ältere) Generation zutrifft? Es gibt auch Menschen mit Altersdepressionen, die sich von jüngeren, nassforschen Exemplaren der Generation Z manch Beleidigendes anhören müssen – etwa vom CDU/FDP-Nachwuchs, dass künstliche Hüftgelenke ab 75 Jahren nicht mehr von der Kasse gezahlt werden sollen, oder dass das Renteneintrittsalter noch zu niedrig sei. Ein Juli-Funktionär rief vor ein paar Jahren Senioren zu: »Alte, gebt den Löffel ab«. Die Grenze verläuft nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen oben und unten!

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