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Aus: Ausgabe vom 22.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Teilnehmende Beobachtung

Simon Sahners Essay »Beim Lösen der Knoten. Nachdenken über Krebs«
Von Barbara Peveling
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Feine Differenzierung des Krankheitserlebens: Simon Sahner

Bei dem Autor Simon Sahner wurde Krebs festgestellt. Eine Fehldiagnose, wie sich zunächst herausstellte. Doch neun Jahre später fand man bei ihm an derselben Stelle einen bösartigen Tumor. Kranksein ist bekanntermaßen eine elementare Erfahrung. Mit der Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit wie Krebs gerät das Leben komplett aus den Fugen. Sahner hat dieses Erlebnis zum Anlass genommen, über dessen Bedeutung zu reflektieren, sowie den sozialen, literarischen, kulturellen und individuellen Umgang mit dieser Krankheit genau zu dokumentieren. Teilnehmende Beobachtung, wenn man so will.

Sahner untersucht in seinem Essay »Beim Lösen der Knoten. Nachdenken über Krebs« das Narrativ der Krankheit, wie es im kulturellen Gedächtnis dominiert. Ihm geht es nicht bloß darum, seine persönliche Krebsgeschichte zu schreiben, sondern er dechiffriert Kranksein als ein soziales Narrativ. Über lebendige und detailreiche Beschreibungen lässt der Autor die Leser seine Krankheit aus nächster Nähe miterleben. So die Folgen der Chemotherapie für den Körper, in seinem Fall etwa Hörstörungen. Sahner flicht immer wieder wissenschaftliche Erkenntnisse ein, so, dass die Störungen im Gehör eine Nebenwirkung von Cisplatin sind. Diese Nebenwirkungen werden poetisch beschrieben, wie beispielsweise die Stille des Zirpens der Zikaden.

Sahner wendet sich auch den kulturellen Darstellungen von Krebserkrankungen zu, etwa Filmen wie Jonathan Levines »50/50 – Freunde fürs (Über)Leben« (2012) oder Büchern wie »Arbeit und Struktur« (2013) von Wolfgang Herrndorf, oder »Tage wie Hunde« (2019) von Ruth Schweikert. Er beschreibt, wie er sich von seiner Freundin den Kopf rasieren lässt, als die Haare anfangen, ihm büschelweise auszufallen, und er sich dabei fühlt wie in einem Filme. Durch die fließende Verflechtung der unterschiedlichen Ebenen erhält der Text einen Rhythmus von Nähe und Distanz, wie er für die sozial- und kulturwissenschaftliche Methode der teilnehmenden Beobachtung typisch ist. Der Forscher partizipiert zugleich an der untersuchten sozialen Interaktionen. Die Krankheit radikalisiert das »going native« – es gibt keinen Ausweg mehr. Der Alltag des Leidens setzt den üblichen Alltag – geprägt von Arbeit, Beziehungsleben, Freizeit – außer Kraft und bringt einen Kranken an seine körperlichen und emotionalen Grenzen. Sahner ist es gelungen, diesen Ausnahmezustand nicht nur erzählerisch überzeugend zu rekonstruieren, sondern auch in einer kultur- und literaturwissenschaftlichen Weise zu reflektieren. Die im Text aufgezeigte Diskrepanz zwischen der Sprache und den Bedürfnissen der Mediziner und den Empfindungen des Kranken ist ein Beispiel dafür.

Sahner gelingen immer wieder beeindruckende Beobachtungen, wie beispielsweise die feine Differenzierung des Krankheitserlebens für Menschen unterschiedlicher Gruppen. Denn obwohl Krankheit als existentielle Erfahrung nicht zwischen Herkunft, Geschlecht oder Klasse unterscheidet, so sind doch Wahrnehmungsunterschiede zu beobachten, je nachdem beispielsweise, ob die Betroffenen weiblich oder männlich gelesen werden. Sein Essay ist eine berührende Feldstudie über die eigene Krebserfahrung.

Simon Sahner: Beim Lösen der Knoten. Nachdenken über Krebs. Oktaven-Verlag, Stuttgart 2023, 234 Seiten, 24 Euro

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