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Aus: Ausgabe vom 22.07.2024, Seite 12 / Thema
Besetzte Universitäten

Rufmord gegen Protest

Alles Antisemiten? Die Proteste an Universitäten gegen Israels Krieg im Gazastreifen und ihre Kritiker.
Von Gerhard Hanloser
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Von der Staatsgewalt mit Repressionen bedacht. Propalästinensisches Protestcamp an der Columbia University in New York, April 2024

Direkt nach dem Beginn des Kriegs in Gaza formierte sich in den USA eine große Solidaritätsbewegung mit der palästinensischen Bevölkerung. Sie forderten eine sofortige Waffenruhe, und in den Demon­strationen spielten linke jüdische Gruppen wie »Jewish Voice for Peace« eine entscheidende Rolle. Auch Studierende schlossen sich diesen Protesten an; vor oder auf Uni-Campi erfolgten Sit-ins, wurden Zeltlager errichtet. Das letzte Mal war das bei der antikapitalistischen Protestbewegung »Occupy Wall Street« im Jahr 2011 geschehen. Mancherorts bestanden bereits einige kleinere Klimacamps, die sich dann der Palästina-Frage verschrieben. Mit dieser Form folgen die Proteste einer Non-violent-resistance-Strategie des zivilen gewaltfreien Ungehorsams.

Der Startpunkt war am 17. April 2024 mit der Besetzung des Campus der New Yorker Columbia-Universität gesetzt. Sehr rasch errichteten Aktivisten an rund 200 Orten in den USA weitere Zeltcamps. Nicht nur die großen Universitäten wie Harvard und Yale sind hier zu nennen, sondern Palästina-Camps und Anti-Kriegs-Zeltlager bildeten sich ebenfalls in kleineren staatlichen Colleges in eher entlegenen Gebieten. Natürlich blieben die Proteste nicht unkommentiert, so machten in besonderer Weise die Republikanische Partei und mit ihr verbundene Medien wie Fox News gegen die Protestcamps mobil. Sie definierten sie als antisemitisch und warfen den Protestierenden eine Pro-Hamas-Haltung vor. Die Bewegung wurde wiederholt als »judenhassend« und »gewaltverherrlichend« denunziert, auch Präsident Joseph Biden erklärte, der dort vermeintlich grassierende Antisemitismus sei inakzeptabel, womit er den linken, propalästinensischen Teil der Demokraten verprellte. Die in Deutschland nachziehende Bewegung der Unicampusbewegung sah sich ebenfalls mit solchen Vorhaltungen konfrontiert. Nach einem recht heftigen Polizeieinsatz gegen friedlich protestierende und kampierende Studentinnen und Studenten im Mai auf dem Unigelände der FU Berlin, bezeichnete CDU-Bürgermeister Kai Wegner den propalästinensischen Campusprotest als »antisemitisch«, womit er den Einsatz von Polizei auf dem Unigelände wohl als gerechtfertigt ansah.

Eva Illouz’ Vorwurf

Doch nicht nur von rechts sind solche Verlautbarungen zu hören. So rief die linke Soziologin Eva Illouz den studentischen Aktivisten der Uniproteste ebenfalls zu: »Euer Hass auf Juden« mache ihr Angst, so geschehen in der Pfingstausgabe der Süddeutschen Zeitung. Die Vorwürfe der Soziologin, die sich vor allem mit ihren an der Kritischen Theorie orientierten Analysen der Liebe im modernen Kapitalismus einen Namen gemacht hat, haben es in sich, doch bei genauerer Betrachtung hinterlassen sie ein schales Gefühl. Man könnte Illouz im Geiste der alten Soziologie, die in den USA als eine Erweiterung der Sozialreportage entstand, fragen, welche empirische Wirklichkeit sie denn untersucht hat. Doch ihre Urteile gründen sich lediglich auf begrifflich-theoretischen Herleitungen. Und diese stehen auf schwachen Füßen. Sie konzediert zwar, keine Historikerin des Antisemitismus zu sein, definiere ihn aber »für mich persönlich« so, »dass Juden für das Vergießen des Blutes von Nichtjuden verantwortlich gemacht werden«. Weiter hinten im Text schickt die Soziologin hinterher, dass Juden als Entität konstruiert würden, »die Blut vergießen und Gesetze ignorieren«.

Spätestens hier wird deutlich, wie weitgehend bei Illouz tagespolitische Tatbestände ihre persönliche Antisemitismusdefinition überstrahlen und sie damit nicht nur der Antisemitismustheorie, sondern auch dem Begreifen der Gegenwart Gewalt antut. Denn es ist ja offensichtlich, dass in Gaza die israelische Armee für Blutvergießen sorgt und dieser Krieg so weitgehende Kriegsverbrechen produziert, dass der Internationale Strafgerichtshof von Den Haag neben dem Hamas-Chef auch nach Netanjahu als Kriegsverbrecher fahnden lässt. Mit ihrer persönlichen Antisemitismusdefinition könnten Illouz und alle, die ihr folgen, das Konstatieren von Gesetzesbruch und blutigen Kriegsverbrechen durch Israel in den Bereich des antisemitischen Wahns rücken. Ärgerlich ist Illouz Intervention, wenn sie den Hinweis, viele jüdische Studierende seien in die Proteste gegen den Gazakrieg involviert, als »alte, von den Sowjets gepflegte Trope« abwehrt und damit robusten Antikommunismus anstelle eines Arguments vorbringt.

Wirklich verheerend ist dann aber der Satz, mit dem sie jüdisches Leben mit Israel und dem Zionismus ineinssetzt: »Wenn Zionismus zum Synonym für das radikal Böse gemacht wird, dann deshalb, weil wir kognitiv und emotional nicht zwischen Israelis und Juden, zwischen israelischen Verbrechen (die in der traurigen Geschichte der Menschheit alltäglich sind) und dem tiefen kulturellen Gefühl, dass Juden für die Welt gefährlich sind, unterscheiden können.« An dem Satz stimmt nichts. Aber politisch passt er zur Herabsetzung der jungen jüdischen Radikalen in der Campusbewegung, die genau diesen falschen und identifizierenden Nexus von Jüdischsein auf der einen und Israel und dem Zionismus auf der anderen Seite, den Illouz bekräftigt, zertrennen wollen.

Eva Illouz sagt »für uns Juden, für uns Israelis« sind der 7. Oktober und die als »zutiefst antisemitisch interpretierten« Uniproteste gegen den Krieg eine Katastrophe. Netanjahu und die seit Jahrzehnten friedensverhindernde Siedlungspolitik nennt sie nicht explizit. Für »Spaltung, Misstrauen und Feindschaft« zwischen Palästinensern und jüdischen Israelis macht sie ausgerechnet die Proteste verantwortlich, in denen jüdische und arabische mit anderen empörten Studierenden zusammenkommen. Illouz Text ist damit eine intellektuelle Kapitulationserklärung des liberalen Zionismus, auch wenn die Angst und Furcht, die Illouz als Jüdin artikuliert, volles Verständnis finden sollte. Doch der Verursacher dieser berechtigten Angst um die Sicherheit jüdischen Lebens sitzt weniger in den globalen studentischen Protestcamps, sondern dominiert die Knesset und befindet sich auf einem rassistisch unterlegten Kriegskurs, der neue Feindschaften hervorbringen wird und eine irgendwie geartete Lösung des Palästinaproblems, die den Interessen beider im historischen Raum Palästina lebenden Bevölkerungsgruppen Rechnung trägt, systematisch sabotiert.

Was ist Antisemitismus?

Wenn man schon mit begrifflicher Schärfe vorgehen will, müsste man statt neuer beliebiger Setzungen davon ausgehen, dass im klassischen modernen Antisemitismus »Jude« mit »Geld« gleichgesetzt und assoziiert, »der Jude« als »Plutokrat« oder »Kapitalist« gelesen und abgelehnt wird. Außerdem tritt Antisemitismus kombiniert mit einem starken eigenen Nationalismus auf und unterstellt den Juden, eine Nation nicht herausbilden zu können und dadurch quasi als »Nation in den Nationen«, besonders in der »eigenen«, negativ und illoyal zu wirken. Juden würde als Intellektuellen und Pazifisten das angeblich natürliche Gefühl für etwa Patriotismus und Mannhaftigkeit fehlen. »Geld und Geist« werden im modernen Antisemitismus als »zersetzende« Kategorien »den Juden« zugeschrieben. Vor allem lebt der moderne Antisemitismus von seiner an Paranoia grenzenden Energie, die alles Übel der Welt auf die von ihm konstruierte Figur »des Juden« projiziert.

Diese Definitionen und Bestimmungen könnten an die Protestierenden auf dem Campus herangetragen werden. Betrachtet man ihre Parolen, ihre Transparente, hört Redebeiträge, spricht mit ihnen, so ist wenig bis nichts davon in dem jungen Protestmilieu anzutreffen. Die klassische antisemitische Pseudokapitalismuskritik ist unter Protestierenden so abwesend, wie sie in der Restgesellschaft marginalisiert ist. Natürlich haben überzeugte Antisemiten im entgrenzten Krieg, den Israel als selbsterklärter jüdischer Staat führt, ihr gefundenes Fressen. Natürlich ist im fundamentalistischen Islamismus ein antijüdischer Verschwörungsglaube tief eingegraben. Und natürlich suchen derlei Figuren auch jede erreichbare Öffentlichkeit, um zu agitieren. Der Inhalt der Proteste ist jedoch ein vollständig anderer. Global kritisieren die jungen Menschen auf den Campi Israel als einen siedlungskolonialistischen, Besatzung ausübenden und kriegführenden Staat. Sie fordern ihre jeweiligen Unileitungen auf, die Geschäfte und Verbindungen ihrer Hochschule mit israelischen Unternehmen und Institutionen zu beenden. Rüstungslieferungen an Israel sollen gestoppt werden, Universitäten sollen dies zum öffentlichen Thema machen.

Der nach dem 7. Oktober erfolgte Krieg gegen Gaza wird zuweilen als ethnische Säuberung, als Genozid oder Völkermord begriffen und wahrgenommen. Über diese Urteile mag man streiten, sie auch vehement ablehnen, sie als antisemitisch motiviert hinzustellen, kommt einer Unterstellung gleich. Auch die Diagnose von Israel als »Apartheidstaat« kann man anzweifeln, die Diagnose selbst als antisemitisch zu werten, ist absurd. Politischer Aktivismus lebt im Übrigen von der Übertreibung, der Zuspitzung, sogar den maximalen Vergleichen. Eine herrschaftskonforme Antisemitismusdefinition sieht in der »Dämonisierung« Israels eine ausreichende Bestimmung für »israelbezogenen Antisemitismus«. Damit kann jeder israelbezogene Aktivismus über das Etikett der Dämonisierung als »antisemitisch« skandalisiert, wenn nicht sogar kriminalisiert werden.

Kritik der Bewegung

Sicherlich: Die politisierten und radikaleren Teile der Protestierenden kritisieren den spezifischen jüdischen Nationalismus, den Zionismus. Unter einigen der Aktivisten scheint es offensichtlich ein mangelhaftes Wissen über die Vielstimmigkeit des historischen Zionismus zu geben, der auch kollektivistisch-sozialistische Elemente und mit den Kibbuzims eine Art des Selbstverwirklichungssozialismus aufwies. Sie attackieren undifferenziert »den Zionismus« und zeichnen das Bild von Israel als »kolonialistischen Siedlerstaat«. Diese Vereinfachungen sollten allerdings nicht vorschnell als »Dämonisierung« verketzert werden, schließlich lösten sich alle fortschrittlichen Ansätze innerhalb der zionistischen Bewegung in Konfrontation mit Krieg, Okkupation und Landnahme entweder auf oder transformierten sich. Der Rechtszionismus mit seiner Akzeptanz von religiös begründeter Vorherrschaft hat sich bereits früh in der Geschichte Israels gegenüber konkurrierenden Zionismen wie beispielsweise Martin Bubers Kulturzionismus durchgesetzt. Einige westliche Sozialisten wollten noch für die frühen 1960er Jahren die Kibbuzim als Inseln sozialer Gleichheit sehen, dabei standen noch bis 1966 palästinensische Israelis unter Militärrecht. Der Sozialismus ist eben keine Insel, und erst recht im Kontext kolonialer Herrschaft und Entwicklungsgefälle vermag nichts Wahres im Falschen zu bestehen. Die neue Protestgeneration, der Illouz unumwunden Antisemitismus vorhält, ist schlicht gegenüber Kolonialismus recht sensibel und wach.

Allerdings grassiert eine Art Volkstümlichkeit in der globalen Szene der Antikriegsaktivisten: Palästinenser werden zum guten, naturwüchsigen Volk verklärt. Diese Verklärung hat eine lange Geschichte und ist oft Teil eines spezifisch linken Orientalismus, der voller Abrechungsbedürfnis mit »dem Westen« ist. So treiben zuweilen Theoriefragmente von Antirassismus, Critical Whitness Studies und postkolonialer Forschung neue Dichotomien hervor: »Weißsein« steht gegen »Schwarzsein«, Klassenfragen werden ignoriert. Diese Elemente von reaktionärer Identitätspolitik könnten und müssten mithilfe des alten linken Universalismus bekämpft und revidiert werden. Sie sind tatsächlich ein Problem, nicht der beschworene Antisemitismus.

Insgesamt kann konstatiert werden, dass der weltweite Protest gegen den Gazakrieg eine Mehrdeutigkeit aufweist. Als linker Protest wie bei den Campusbesetzungen stellt er einen mutigen Aufstand gegen eine Weltordnung dar, die die straffreie kriegerische Abstrafung einer ganzen Bevölkerungsgruppe zulässt. Es ist ein nonkonformer Aufstand, der sich mit den Universitätsautoritäten, einer oft rassistischen Polizei, (jüdischen wie nichtjüdischen) Rechtsradikalen und hetzenden Medien konfrontiert sieht. Die Proteste stellen die Reaktivierung einer internationalen Solidaritätsbewegung dar. Sie sind von Empathie geprägt und haben eine globale »Horizonterwartung« (Gilles Deleuze), die Linkssein erst ausmacht. »Geist der Utopie« und subversive Kommunikationsguerilla blitzt auf, wenn Transpersonen und Queers sich ausgerechnet mit einer Bevölkerung solidarisieren, die gezwungen ist, im autoritär-religiös verwalteten Gazastreifen zu leben.

Gleichzeitig artikuliert sich unter neuen Radikalen eine merkwürdige Akzeptanz des palästinensischen Nationalismus. Der Nationalismus unterdrückter Völker ist bei weitem nicht mehr so unschuldig wie zu Beginn der Komintern, als Revolutionäre noch etwas Befreiendes von ihm erwarteten, zumal sich der palästinensische Nationalismus mit religiösem Irrationalismus aufgeladen hat. Einige neoleninistische Gruppen scheinen dies schlicht zu ignorieren. Im besten Fall wollen diese Gruppen die weltrevolutionär gestimmte bolschewistische Ablehnung des Zionismus reaktivieren. Er müsste sich dann aber Rechenschaft über die historische Aktualität seiner Annahmen und Grundvoraussetzungen ablegen. 1918 schien die Weltrevolution zum Greifen nah, 1968 imaginierten neue Linke einen Nahen Osten voller Räte ohne koloniale Staatlichkeit. Was soll aber heutzutage »Antizionismus« bedeuten? Wer beispielsweise von »75 Jahre israelischem Völkermord« spricht, wie in einer Johannesburger Deklaration über Siedlerkolonialismus geschehen, behauptet, Israel sei über die Dauer seiner gesamten Geschichte dabei, einen »Völkermord« zu begehen. Das ist hochgradig projektiv und spricht Israel de facto das Existenzrecht ab.

Weltweit scheint sich eine radikale, gegen Israel aktive Linke stillschweigend darin einig zu sein, zu Hamas, religiösem Fundamentalismus, Antisemitismus und den von Islamisten und einigen nationalistischen Kräften artikulierten Bekundungen, dass Juden und Israelis im historischen Raum »Palästina« nichts verloren hätten, zu schweigen. Dieses Schweigen ist politisch verheerend und ein unverzeihlicher Fehler. Diese Ideologisierungen des Protests auf »Antisemitismus gegen Israel« zurückzuführen, ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, blendet aber das Naheliegendere aus, nämlich dass sie politischer Einäugigkeit, Fehlrezeption oder der Haltung »der Feind meines Feindes ist mein Freund« geschuldet ist.

Neuer McCarthyismus

Doch den lautesten Stimmen, die gegen die Campusbewegung mobil machen, geht es nicht um Korrektur, sondern um Delegitimierung des Protests. Rechte Kritiker der Uniproteste bedienen zuweilen einen reaktionären Populismus, der die Proteste nur als von »Eliteunis« ausgehend imaginiert und die Träger der Proteste als elitär und privilegiert herabsetzt. Teil dieses rechten Populismus sind auch die extrem personalisierenden Anklagen gegenüber der Gendertheoretikerin Judith Butler. Diese reaktionäre Anklage folgt einer anderen Logik als eine – notwendige – linke oder marxistische Kritik am Dekonstruktivismus und einigen Interpretationen postkolonialer Theorie. Dass eine jüdische, queere und der Gewaltfreiheit verpflichtete Denkerin in den Bereich des »Antisemitischen« gerückt wird, ist eine jener aktuellen Verdrehungen und Umstülpverhältnisse, die allen auffallen könnte, die wissen, dass historisch der Antisemitismus mit Hass auf Pazifismus, Misogynie, Intellektuellenfeindlichkeit, der Zuschreibung uneindeutiger Geschlechtlichkeit einherging.

In maßgeblichen Ländern des Westens wie in Deutschland, Großbritannien oder den USA grassiert ein herrschaftlicher angeblicher »Antiantisemitismus«, der sich als Solidarität mit dem rechtsradikalen Israel übersetzt und Muslime und Araber unter Generalverdacht stellt. Die Repressionsdrohungen gegenüber vulnerablen Personengruppen überschlagen sich von Woche zu Woche. Aber selbst Honoratioren, die von der Staatsräson abweichen, geraten zuweilen in den Fokus eines neuen McCarthyismus. Dies zeigte sich in Berlin, als sich Dozenten gegen den Polizeieinsatz an der Freien Universität Berlin gegen ein Protestcamp Anfang Mai aussprachen. Daraufhin wurde im Forschungsministerium geprüft, ob man den Unterzeichnern des offenen Briefes Fördermittel entziehen kann. Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hatte direkt nach der Räumung der FU Berlin bei einer Denunziationskampagne der Bild gegen diejenigen Lehrenden mitgemacht, die die Polizeigewalt kritisiert hatten.

In den USA solidarisierten sich ebenfalls Professoren und Dozierende mit ihren Studenten. Bereits im Dezember 2023 wurden die Präsidentinnen von drei renommierten Universitäten der USA zur Anhörung vor den Bildungsausschuss des Repräsentantenhauses zitiert. Die Bilder erinnerten an die Zeit des McCarthyismus der 50er Jahre. Über die äußerst brutalen Polizeieinsätze auf US-amerikanischen Campi, in denen auch Lehrende von martialischen Einheiten der Polizei geschlagen und am Boden fixiert wurden, konnte der deutsche Medienkonsument nur über linke, englischsprachige Formate wie Democracy Now! etwas erfahren. Die jede offizielle Meldung zu den Campusbesetzungen abschließende Bekundung, dass sich jüdische Studierende dank der Proteste auf dem Campus nicht mehr sicher sein könnten, wurden von vielen Dozierenden wie dem Wirtschaftshistoriker Adam Tooze von der Columbia University stark in Zweifel gezogen. In einem Gespräch mit Thilo Jung versichert er den Protestierenden seine Solidarität. Er machte deutlich, dass »Antizionismus«, den einige Studenten für sich reklamieren, etwas anderes als »Antisemitismus« und der Protest berechtigter ziviler Ungehorsam sei.

Diese Beobachtungen stehen im Widerspruch zu zu gängigen Sprachmodulen und autoritären Bekenntnissen, die sowohl in den USA wie auch in Deutschland vorherrschend sind und die Suspendierung von freier Rede wie Demonstrationsrecht begleiten. Hinter dem moralisierenden »Antiantisemitismus« versteckt sich eine »Solidarität« der Bundesrepublik mit Israel sowohl in Hinblick auf die Kriegsziele als auch hinsichtlich der Kriegspraxis. So hat sich Deutschland frühzeitig bereit erklärt, Israel vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die südafrikanische Klage wegen Genozids zu verteidigen.

»Wir sind die Guten«

Unterhalb der staatlichen Ebene, die in Deutschland im Begriff der Staatsräson kondensiert ist und bedingungslose Solidarität mit Israel im Geiste eines imperialistischen Atlantizismus und seiner Geostrategie bedeutet, wirkt in der Zivilgesellschaft und in den ideologischen Staatsapparaten eine repressive Eigenlogik. Im deutschen Kontext gehen die Antisemitismusanklagen gegen die Uniprotestierer mit einer unangenehmen Schuldverlagerung einher, deren Entlastungsfunktion offensichtlich ist. Hier greifen Prozesse des Unbewussten: Unter der Hand wird ein heiles, gelehriges, aufgeklärtes und angeblich geschichtsbewusstes »Wir« konstruiert, das die Konstruktion des dunklen Anderen als Alterität benötigt – die antisemitischen Araber, »die Postkolonialen«, »die Sonnenallee« oder »linke Antisemiten«. Die Psychodynamik dieses Prozesses verlangt, dass man von empirischer Erfahrung und Überprüfung Abstand nehmen muss. Wer hierzulande die propalästinensische Campusbesetzungsbewegung als »antisemitisch« meint denunzieren zu müssen, ist oftmals von einer sehr eigenen Motivlage angetrieben. Dieser »Antiantisemitismus« ist hier ein sekundärer Antisemitismus neuer Art. Verpanzert in einer Mischung aus Schuldabwehr und dem Bedürfnis, als »gut« wahrgenommen zu werden, können diese mit Anklage- und Straflust ausgestatteten Akteure aufgrund eines ideologisch angetriebenen Entlastungsbedürfnisses nicht die Motivation des eigenen Denkens und Handels reflektieren. Die Mehrdeutigkeit der US-amerikanischen und andernorts stattfindenden propalästinensischen Bewegungen, die vor allem eine Bewegung gegen einen massenhaft Tod und Leid produzierenden Krieg darstellt, muss in diesen ideologischen Zuschreibungen autoritär kassiert werden. Diese Ambiguitätsintoleranz ist vonnöten, um das eigene Selbstbild zu stabilisieren. Das dürfte vor allem für das bürgerliche Milieu staatsaffiner Medienschaffender gelten. Man kann nur selbst guter deutscher, nichtjüdischer Antiantisemit sein, indem man andere zu Antisemiten macht. Politische Repression, die den Gegner mit dem Verdikt des »Antisemitismus« belegt und die Verfolgung derart begründet, trifft so auf wohlwollende Aufnahme breiter und maßgeblicher Teile der Zivilgesellschaft.

Gerhard Hanloser schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. April über das Phänomen Antideutsche. Er ist Herausgeber des im Wiener Mandelbaum-Verlag 2020 erschienenen Sammelbands »Linker Antisemitismus?«

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  • Leserbrief von N. Schreiber aus München (23. Juli 2024 um 22:42 Uhr)
    Vielen herzlichen Dank für diese sehr, sehr kluge, in jede Richtung korrekt ausdifferenzierte, rhetorisch brillante und damit trotz der Länge extrem lesenswerte Darstellung! Was mich schon lange gleichzeitig wundert und sehr frustriert, ist die offensichtliche, weil immer wieder zu beobachtende Tatsache, dass diese rechtsextremen Heuchler, die zur Rechtfertigung der imperialistischen Ausdehnung eines kapitalistischen Staates dienendem Massenmord und -Folter, der strategisch geplanten kriegerischen Dauerunterdrückung und massenhaften Vernichtung von Leben und entsprechend zur Vertuschung ihrer eigenen, ganz persönlichen, mordlüsternden Perversion ungerechtfertigt die Antisemitismus-Keule schwingen, nicht einmal ansatzweise zu begreifen scheinen, dass sie selbst zu den krassesten Antisemiten gehören. Vielleicht ja gar nicht mal von der Intention her. Aber von der Wirkung her auf jeden Fall. Von daher merke: Falscher, verlogen-verheuchelter Antiantisemitismus ist selbst Antisemitismus in übelster, hinterhältigster Form und damit ein verabscheuungswürdigendes, zu ächtendes Verbrechen in jeglicher Hinsicht. Wer sich dem hingibt und damit direkt und / oder indirekt unerträgliches Leid über palästinensische UND jüdische Menschen bringt, hat sich selbst jeder Diskursfähigkeit beraubt und entsprechend absolut disqualifiziert.

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