75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 17. September 2024, Nr. 217
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 22.07.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Debatte über den Ukraine-Krieg

Globaler Umbruch

Gegen die »emotionsgetriebene Oberflächlichkeit«: Lothar Schröter untersucht den Ukraine-Krieg als Teil eines weltumspannenden Konflikts
Von Stefan Bollinger
15.jpg
Angehörige der ukrainischen Präsidentengarde vor NATO-Flagge in Kiew (29.4.2024)

Lothar Schröter, Militärhistoriker, einst am Militärgeschichtlichen Institut der DDR tätig, macht Ernst. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Strategien und Finten der von den USA geführten NATO und bringt Erfahrung sowie akribische Analysefähigkeit in die Untersuchung des auf den ersten Blick so singulär erscheinenden Krieges in und um die Ukraine ein. Gegen selektive Kurzschlüssigkeit und offene wie verdeckte Schablonen will er mit wissenschaftlicher Analyse vorgehen, »nicht mit emotionsgetriebener Oberflächlichkeit, die am Ende nichts anderes als bildungsarme Ratlosigkeit ist«.

Er fragt nach Ursachen und Wurzeln von Kriegen, ihren sozioökonomischen Grundlagen. Politisches Tagesgeschäft und Langzeitstrategien hinter ideologischen Schleierwolken sind auf ihren Kern zu bringen: Gier nach Profit, Vorherrschaft der einen und Unterwerfung der anderen. Er hält sich mit polemischer Kritik an Positionen indifferenter oder auch für die ukrainische Regierung und die NATO parteiergreifender Linker zurück, aber macht deutlich, dass Moralisieren, Kurzfristdenken, verknappte »Analysen« nicht zu den Wurzeln dieses Konflikts vordringen können.

Über die Sinnlosigkeit von Kriegen und deren Opfern braucht man Schröter nicht zu belehren. Er verabscheut Kriege. Aber eine marxistische Analyse muss nach Ursachen fragen, nach den handelnden Klassenkräften und den langen Linien von Strategien, die sich nicht mit Formeln wie der vom plötzlich losgebrochenen »Angriffskrieg« beantworten lassen.

In sieben Kapiteln zeichnet Schröter den Weg in den Krieg nach, der mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Vormarsch nationalistischer, prokapitalistischer Kräfte begann. Es wird dabei deutlich, dass es irreführend ist, den 24. Februar 2022 oder auch nur die acht Jahre davor sich vollziehenden Ereignisse um den Putsch auf dem Maidan und die Separationsbestrebungen der russischsprachigen Gebiete Krim und Donbass zum Ausgangs- und Erklärungspunkt des derzeitigen Krieges zu machen. Das sich in diesen Jahren vollziehende Scheitern einer Verständigung zwischen Kiew und Moskau war im Westen gewollt und Resultat langfristiger Entwicklungen. Ideologischer Ausdruck davon war das ständige Anwachsen von Nationalismus, Geschichtsverfälschung, Antikommunismus und Russophobie in der »neuen« Ukraine. Diese Kräfte suchten den Konflikt mit Russland und boten sich dem Westen an.

Die tiefe politisch-soziale Krise, die die Sowjetunion in ihren letzten Jahren erfasst hatte, setzte Kräfte und Ideologien frei, die den Weg zum Kapitalismus ebneten und dabei entschlossen auf die nationalistische Karte setzten. Sie orientierten sich nicht auf Russland, das selbst einen solchen Umbruch vollzog, sondern auf die USA und ihre Verbündeten. Dass Moskau und Beijing diese Umorientierung nicht vollzogen, führt für ihn zum Kern des Konflikts »des Westens« mit den beiden Großmächten. Insofern ist die eingetretene Eskalation gegenüber Russland kein Zufall, auch wenn der Raum dieser Konfrontation nicht zwangsläufig die Ukraine sein musste. Aber aus historischer Sicht ist die Ukraine das Einfallstor, um Russland zu schwächen oder ganz aus dem Spiel zu nehmen.

Für Schröter befindet sich die Welt »in einem in seinen Ausmaßen und seiner Tiefe überhaupt nicht zu überschätzenden geostrategischen Umbruch. Sie sortiert sich politisch, wirtschaftlich und militärisch völlig neu.« Und er meint, dass dieser Prozess sich über 30 Jahre anbahnte und »noch Jahrzehnte andauern« wird. Nun spitzt er sich in der Ukraine zu. »Der geostrategische Umbruch, den wir beobachten, ist eigentlich nur zu vergleichen mit der Teilung der Welt nach 1917, als eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung geboren wurde, und nach 1945 in zwei antagonistische Weltsysteme und dann in universalen Anspruch geltend machende, sich politisch-militärisch gegenüberstehende Machtgruppierungen«, schreibt Schröter. Letztlich werde es um die Entscheidung um die Vorherrschaft zwischen den USA und China gehen. Die heutigen Auseinandersetzungen etwa in Afrika sind immer wieder neue Schauplätze dieses Ringens.

Es bleiben auch bei Schröter Fragen offen, die nicht alleine den Krieg in der Ukraine betreffen. Der beschriebene Umbruch hat augenscheinlich noch andere Dimensionen, die sich im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts anbahnten, in denen der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks nur ein, wenn auch das wohl entscheidende Ereignis war. Das betrifft das wachsende Selbstbewusstsein von Staaten des globalen Südens, das Aufkommen einer ganzen Reihe zum Teil religiös-nationalistisch verbrämter Gegenkräfte zum US-dominierten System, aber auch das vorläufige Ausscheiden der Arbeiterbewegung und der politischen Linken als gestaltende Kräfte, was sich nicht nur auf 1989/91 reduziert.

Werden die USA und ihre Verbündeten ihre Vorherrschaft behaupten, oder setzt sich eine multipolare Ordnung durch, die zweifellos nicht das Ende imperialistischer Rivalität der dann tonangebenden Mächte bedeuten würde? »Der Westen will genau dies auf Biegen und Brechen nicht akzeptieren. Er geht mit aller Gewalt – auch wörtlich – dagegen vor«, schreibt Schröter. Die Bewahrung der bestehenden Ordnung soll bestimmte Ausbeutung- und Profitinteressen sichern. »Der Rest der Welt kämpft um seine Rechte, verficht die Multipolarität mit dem Kern von Gleichheit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und einer fairen Weltwirtschaftsordnung. Will der Westen sein Ziel durchdrücken, muss er perspektivisch China niederringen. Darin besteht der machtpolitische Grundkonflikt unserer Epoche«, so der Autor.

Lothar Schröter: Der Ukraine-Krieg. Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO. Edition Ost, Berlin 2024, 348 Seiten, 32 Euro

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (30. Juli 2024 um 12:42 Uhr)
    »Über die Sinnlosigkeit von Kriegen und deren Opfern braucht man Schröter nicht zu belehren«, schreibt Bollinger in seiner ansonsten anregenden Rezension. »Er verabscheut Kriege.« Abscheu ist jedoch nicht gleich der Feststellung der Sinnlosigkeit. Die Alternative kann ja die widerstandslose Unterwerfung sein, etwa bei national unterdrückten Völkern, die Vertreibung, wie im Falle des palästinensischen Widerstandes, oder ähnliches. Der algerische Freiheitskampf z. B. war sehr opferreich, und möglicherweise wäre die Befreiung auch mit weniger Grausamkeiten, weniger Opfern, weniger Zerstörungen zu erreichen gewesen – ja, wer solche Kämpfe aufnimmt, nimmt eine große Verantwortung auf sich. Ich wage dennoch zu bezweifeln, dass Schröter derlei absolut pazifistische Positionen vertritt, man sollte ihn wohl selbst zu Wort kommen lassen.

    Das gilt aber eben auch für den »russisch-ukrainischen Krieg«, der laut Jens Stoltenberg ab 2014 datiert, 8 Jahre später jedoch massiv am 24. Februar 2022 von Putin ausgeweitet wurde, nachdem ab dem 17. jenes Monats klar geworden war, dass die Ukraine ernst machen werde mit der militärischen Rückeroberung des östlichen Donbasses, also der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Ja, Russland hätte das auch hinnehmen können, nach dem Völkerrecht wohl hinnehmen müssen – aber nein, das wäre das Ende der Präsidentschaft Wladimir Putins gewesen, das Ende der russischen Staatlichkeit auch.

    Der Westen wusste, dass er Putin in eine »ausweglose« Lage gebracht hatte, aus der er sich nur so »freimachen« konnte! Als Vollstrecker des Willens der Volksmassen! Die »Umorientierung«, von der die Rede ist, konnte neben China eben auch Russland nicht »vollziehen«, das blieb den instabilen kleinen antirussisch-»nationalistisch« geführten, tatsächlich aber, wie das schon Rosa Luxemburg vorhergesagt hatte, ihr Mäntelchen stets nach dem Wind der Großmächte hängenden bourgeoisen Ländern Mittel- und Osteuropas vorbehalten.

    In dem Sinne ist der Krieg um die Ukraine »Teil eines weltumspannenden Konflikts«, zugleich aber auch Teil von Russlands nationaler geopolitischer Wiederherstellung, auch des russischen »nation-buildings«. (Dass Millionen von Russen in früheren Sowjetrepubliken malträtiert werden, weiß heute jede bzw. jeder, die oder der es wissen will.)

    Darum ist es wohl nicht müßig zu erwähnen, dass bei der Entstehung der Industrienation Deutschland der erste der drei »Einigungskriege« 1864 gegen Dänemark wegen der Unterdrückung der deutschsprachigen Bevölkerung in Südschleswig geführt wurde; übrigens eventuell trotz des dänischen Bruchs der »Londoner Vereinbarungen« doch völkerrechtswidrig, denn ganz Schleswig war zweifellos ein Teil Dänemarks. (»Wer ohne Fehl ist …«)

Ähnliche:

  • Erst Auflösung der Sowjetunion, dann Erweiterung der NATO: US-Pr...
    01.07.2024

    Verspielte Sicherheitsordnung

    Gegen das geschürte Misstrauen: Petra Erler und Günter Verheugen über den »langen Weg zum Krieg« in der Ukraine
  • Unter diesem Banner sollt ihr siegen. Die NATO wähnt sich als Ve...
    04.04.2024

    Im Kampf gegen Moskau

    75 Jahre nach ihrer Gründung sind die Fronten der NATO wieder die gleichen wie anno 1949
  • Nur Schachfiguren? Soldaten des ukrainischen »Donbass«-Bataillon...
    25.03.2024

    Verflochtene Interessen

    Ausgang offen: Georg Auernheimer diskutiert den Krieg in der Ukraine als »strategische Falle«

Mehr aus: Politisches Buch