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Aus: Ausgabe vom 27.07.2024, Seite 12 / Thema
US-Präsidentschaftswahlen

Der Scharlatan

Ein Mann ganz nach seiner Fasson. Donald Trump hätte sich mit J. D. Vance keinen besseren »Running Mate« aussuchen können
Von Ingar Solty
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Ein Schattenmann, der sich ob seines Aufstiegs selbst gratuliert, dabei seine Biographie frisiert und literarisch erfolgreich ausschlachtet: James David Vance (bei einer Wahlkampfveranstaltung in Middletown, Ohio, 22.7.2024)

In der Regel erschwindelt sich ein Hochstapler eine Herkunft, eine berufliche Qualifikation oder ein Amt zum eigenen Vorteil. Bevor Karl May den »Wilden Westen« erfand, den er nie bereist hat, erfand er sich selbst als Lehrer, Geheimpolizist, Augenarzt Doktor Heilig und Neffe eines reichen Plantagenbesitzers aus der Karibik. Friedrich Wilhelm Voigt, besser bekannt als der Hauptmann von Köpenick, maßte sich einen militärischen Dienstgrad an, um die Stadtkasse plündern zu können und entlarvte damit eine militaristische und autoritätsfixierte Gesellschaft. Der staatenlose Gelegenheitsarbeiter Harry Domela schaffte es Anfang der 1920er Jahre, sich als Graf von der Recke, Prinz von Lieven und Baron von Korff Zugang zur Lebensweise der herrschenden Klasse zu verschaffen. Seine bürgerliche Wiedergängerin fast 100 Jahre später war die Studienabbrecherin und Tochter eines deutsch-russischen Lkw-Fahrers Anna Sorokin, die sich in New York als Tochter des Geldadels ausgab, um Zugang zu Krediten, Kaufkraft und Kunstgewerbe der kapitalistischen Klasse zu bekommen.

Taschenspielertricks

J. D. Vance ist anders. Er ist ein Hochstapler, dessen Hochstapelei die Form des Tiefstapelns angenommen hat, um ihn selbst als größer und interessanter erscheinen zu lassen, als er ist. Das ist seine Lüge. Vances identitäre Behauptung ist, authentisch für die weiße US-amerikanische Arbeiterklasse zu sprechen. Die Welt nannte ihn jüngst den »Barack Obama der weißen Arbeiterklasse«. Dieser Klasse hat er aber nachweislich nie angehört. Der Welt zufolge verkörpert Vance »einen neuen Konservatismus, der nicht mehr elitär daherkommt«. Doch Vance ist elitär. Er wollte auch nie etwas Anderes sein.

Vom Niemand zum Jemand wurde Vance mit einem Bestseller: die »Hillbilly-Elegy«, erschienen 2016 und im Zuge von Trumps Triumph im selben Jahr breit rezipiert und alsbald auch verfilmt. In seinem als »Memoiren« verkauften Werk beschreibt der damals 31jährige Vance das Leben der armen weißen Arbeiterklasse in der kleinen Kreisstadt Jackson im südöstlichen Kentucky im hinterwäldlerischen Appalachen-Gebirge.

Seine Familie aber lebte dort nie. Die Großeltern, bei denen er teilweise aufwuchs, wohnten hier schon seit den späten 1940er Jahren nicht mehr, sondern 300 Kilometer weiter nördlich in Middletown. Die Stadt, in der schon Vances Eltern und er selbst zur Welt kamen, liegt nicht in den Appalachen, sondern im südwestlichen Ohio. Middletown ist nicht ländlich, nicht hinterwäldlerisch. Middletown zählt 51.000 Einwohner. Angeschlossen an ein enges System von Bundesstraßen und Interstate Highways liegt die Stadt mittendrin in der fast zwei Millionen Einwohner zählenden Metropolregion rund um das pulsierende Cincinnati.

Vance kann in seinem Buch freilich nicht solche grundlegenden Tatsachen seiner Biographie verdrehen. Er bedient sich darum eines Taschenspielertricks. Er spricht von der »weißen Arbeiterklasse mit Wurzeln in den Appalachen« als der »Gruppe von Menschen, die ich kenne«, um dann im selben Satz plötzlich ins »wir« zu verfallen und sich somit selbst in diese Gruppe hineinzuschmuggeln. Den Rest erledigen die »Wurzeln«, die beachtliche 300 Kilometer weit reichen und, wohlgemerkt, ein halbes Jahrhundert überspannen.

Natürlich muss Vance auch über sein eigentliches Leben schreiben. Ein anderes hat er nicht. Er und seine fünf Jahre ältere Halbschwester leben mal bei der Mutter, die als Krankenschwester arbeitet und nach wechselnden Partnerschaften ihren Chef, den Leiter der Dialyseabteilung, heiratet, und dann wieder, weil die Mutter ein Drogenproblem plagt, bei den Großeltern, die immer noch in Middletown wohnen. Der einzige Bezug zu Jackson und zur ländlichen weißen Arbeiterklasse bleiben ein paar Sommerferienbesuche bei der Urgroßmutter, die alsbald verstirbt.

Nun ist auch Ohio nicht paradiesisch. Deindustrialisierung und Perspektivlosigkeit der Region beschreibt Vance auf großer Leinwand. Sie erklären die Offenheit des Mittleren Westens für Populismus von rechts, aber durchaus auch für den linken von Bernie Sanders. Der Niedergang gilt aber für Vances eigentliche Heimat kaum. Zahlreiche transnationale Konzerne haben in der globalisierten Metropolregion bis heute ihre Hauptquartiere. Auch Middletown selbst ist nicht deindustrialisiert. Die große Stahlfabrik »AK Steel«, zentraler Zulieferkonzern der Auto- und Motorradindustrie, existiert bis heute, mit immer noch zehntausend Beschäftigten. Die Lohnarbeiter sind nicht zum Pendeln gezwungen. Noch beim letzten Zensus von 2020 lag der durchschnittliche Arbeitsweg bei 23,1 Minuten. Die Schulabbrecherquote lag mit unter 15 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt. Für eine mittelgroße Industriestadt ist auch der Anteil mit College-Abschluss (15,6 Prozent) nicht gering. Es gibt durchaus auch hier einen deutlich höheren Anteil an Armen als im nationalen Durchschnitt. Fast jeder Fünfte ist hier arm. Die Erwerbslosenquote ist aber, anders als in Jackson, trotzdem niedrig, liegt deutlich unter dem nationalen Durchschnitt.

Industrielle Basis und gewerkschaftliche Strukturen besorgen, dass auch ohne Hochschulabschluss die Realeinkommen noch vergleichsweise gut sind, sehr viel besser jedenfalls als in Jackson. Das mittlere Haushaltseinkommen liegt bei 50.457 US-Dollar. Das liegt unter dem nationalen Durchschnitt, ist aber fast doppelt so hoch wie in Jackson. Auch kulturell ist Middletown nicht arm. Die Stadt hat zahlreiche nationale Politiker und sogar Bundesminister, Unternehmer und Finanzmogule, Football-Stars, Filmregisseure und Schauspielerinnen sowie Kolumnisten großer Zeitungen hervorgebracht. Auch ist Middletown im Gegensatz zu Jackson nicht ausschließlich Heimat von Weißen. Durchschnittlich viele Schwarze leben hier und dazu Latinos.

Um den Bezug zu Jackson herzustellen, bedient sich Vance eines weiteren Taschenspielertricks: der Kulturalisierung von Armut. Jackson sei vielleicht nicht wirklich die Heimat seiner Familie, aber doch »das spirituelle Bergzuhause der Vances«. Die Großeltern beschreibt er als »kulturelle Hillbillies«. Der Begriff »Hillbilly« ist grausamer noch als jener des »Hinterwäldlers«. Der Begriff »Hillbilly«, schreibt Anthony Harkins in »Hillbilly: A Cultural History of an American Icon«, sei eine der »ideologischen Stereotypisierungen von armen und Arbeiterklasse-Weißen aus den Südstaaten, erfunden von Mittel- und Oberklassekommentatoren«. Tatsächlich sind Begriffe wie »Hillbilly«, »Redneck«, »White Trash« usw. die letzten salonfähigen Klassenressentiments des liberalen Bürgertums. Da sie sich gegen weiße Arbeiter richten, fallen sie nicht unter den im Neoliberalismus geächteten Verdacht des Rassismus. Wer auf die weiße Arbeiterklasse scheißt, braucht keine negativen Reaktionen von schwarzen Bürgerrechtlern, liberalen Leitmedien und Hochschulprofessoren zu befürchten. Im Gegenteil, im Regelfall findet er Zustimmung. Denn Hillbillies sind das, was man hierzulande als »Unterschicht« bezeichnet hat.

Kulturalisierung der Armut

Der Hillbilly verkörpert alles, was dem halbgebildeten, halbzivilisierten und halbreflektierten Bürger das Gefühl vermittelt, in der Gesellschaft etwas zu bedeuten und es geschafft zu haben. Er braucht ihn, um sich und seine mediokre Existenz zu erhöhen über die stereotypisierte Klasse der arbeitsscheuen, Sozialhilfe kassierenden, kettenrauchenden, saufenden, auf viel zu großen Flachbildschirmen Ramsch-TV guckenden, fettleibigen, Fertiggerichte konsumierenden, sich bei Kik und Primark mit viel zu grellen Klamotten einkleidenden, gegeneinander und gegen die eigenen Kinder gewalttätigen, viel zu kinderreichen und im Teenageralter schon schwangeren Volksgenossen. Und weil die diese bürgerliche Verachtung hinter der Fassade der formellen Gleichheit spüren, eignen sie sich den Begriff der »Hillbillies« in rebellischem Trotz an und hassen ihrerseits alles Liberale, von Hollywood bis zu den Ivy-League-Professoren.

Die Großeltern hätten nun, so Vances Taschenspielertrick, den Geist der Scots-Irish mit nach Middletown gebracht, wo, ethnisch-demographisch betrachtet, mehrheitlich die Nachfahren deutscher Siedler dominieren. Historisch gilt: Die Scots-Irish kamen vielfach als »indentured servants«, das heißt als Schuldsklaven, nach Amerika. Sie dienten den englischen Siedlern als Puffer gegen die indigene Bevölkerung und siedelten auch in den Appalachen. Wenn Henry David Thoreau Mitte des 19. Jahrhunderts den Eisenbahnbau kritisiert und schreibt, jede Bohle über die die neue Technologie fahre, sei ein toter irischer Arbeiter, dann erinnert dies an die ursprüngliche Klassenlage der Scots-Irish, die in den Appalachen vor allem im Bergbau tätig waren.

Um den Geist der Scots-Irish nach Middletown zu verpflanzen, bemüht Vance die Erzählung von der »Kultur der Armut«, die in den 1960er Jahren von Michael Harrington und Daniel Patrick Moynihan entwickelt wurde und die Richard Herrnstein und Charles Murray in »The Bell Curve« später dazu diente, sich vom Egalitarismus ab- und einer elitären Bildungspolitik zuzuwenden und den Abbau von sozialstaatlichen Leistungen sowie eine Schwächung der Rolle des Staates in der Wirtschaft zu propagieren, weil eine »Kultur der Armut« ja auch nur durch individuelle Besserung zu überwinden sei. Vance erklärt an einer Stelle, »Armut« sei »die Familientradition«.

Die Probleme der Appalachen sind indes nicht kulturell, sondern soziostrukturell. Scots-Irish, die, wie Vances Großeltern selbst, wegziehen, können sozial aufsteigen. Vance aber braucht die Kulturalisierung, um sein Leben in Middletown wie das Leben der armen weißen Arbeiterklasse in Jackson zu präsentieren und so seinen sozialen Aufstieg – er wird später an der Yale Law School seinen Abschluss machen – grandioser erscheinen zu lassen.

In seinem Buch behauptete er, er habe einem »Teufelskreis der Armut« entkommen müssen. Später musste er unter dem Druck von Öffentlichkeit und Faktencheck einräumen: »Mein Leben unterschied sich nicht allzu sehr von dem vieler Menschen, die in Middletown, Ohio, aufgewachsen sind.« Geprägt vom auch großelterlichen »materiellen Komfort eines Mittelklasselebens« mit eigenem Haus, Auto usw. Bleiben freilich noch die zerrütteten Verhältnisse mit der Drogen konsumierenden Mutter. Mit 15 will Vance sich in einem veritablen Abwärtsstrudel befunden haben: Er habe geraucht, getrunken und Vandalismus betrieben. Truly shocking! Aber durch harte Arbeit an sich selbst fing er sich und gelangte über das Militär nach Yale.

Vance schreibt, wie unwahrscheinlich das gewesen sei. Aber schon seine eigene fünf Jahre ältere Schwester gründete eine stabile Familie mit drei Kindern, besuchte die Universität, machte ihren Abschluss und arbeitet heute in leitender Funktion für den Sportartikelhersteller Asics. Der Verlag pries Vances »Elegie« als eine »multigenerationelle Reise von den Appalachen an die Yale Law School – zwei Welten, die nicht weiter voneinander entfernt sein könnten«. Multigenerationell? Der aufmerksame Leser hätte hier leicht aufhorchen können.

Vances »Memoiren«, seinerzeit geschrieben in der am meisten gentrifizierten Stadt der Welt, in San Francisco, sind ein Akt der Selbstgratulation. Aber gerade weil er in manierierter Bescheidenheit behauptet, er sei ja kein Genie, mit harter Arbeit an sich selbst könne jeder schaffen, was er geschafft hat, verkaufte sich das Buch traumhaft auf einem amerikanischen Markt, der den amerikanischen Traum verkauft. Wer es nicht schafft, ist selber schuld. »Politik kann hilfreich sein«, schlussfolgert Vance, »aber es gibt keine Regierung, die diese Probleme für uns lösen kann.« Die Lösung beginne damit, »dass wir aufhören, Obama oder Bush oder anonymen Unternehmen die Schuld zu geben und anfangen, uns zu fragen, was wir tun können, um die Dinge zu verbessern«. Als ob für einen, dem der Aufstieg gelingt, nicht Hunderte im Elend verharren müssten.

Gut dotierter Märchenerzähler

Die »Hillbilly-Elegie« würde, kritisiert der Regionalhistoriker Bob Hutton, das »Märchen desjenigen erzählen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht«, also jenes »Märchen, das der Kapitalismus schon immer erzählt hat, um die Unterklassen für sich zu gewinnen«. Die Armut, schlussfolgert Vance, habe nichts mit dem kapitalistischen System zu tun. Wer arm ist, ist selbstverschuldet arm. Die Amerikaner nennen das »victim-blaming«.

»Wir konsumieren uns ins Armenhaus«, schimpft Vance. »Wir kaufen riesige Fernseher und I-Pads. Unsere Kinder tragen schöne Anziehsachen, den Hochzinskreditkarten und Zahltagkrediten sei Dank. Wir kaufen Häuser, die wir nicht brauchen, belegen sie mit einer Hypothek, um mehr konsumieren zu können (…). Sparsamkeit widerstrebt unserem Wesen.« Und: »Wenn ich das Schicksal meines Umfelds erwähne, begegnet mir oft eine Erklärung, die mehr oder weniger so klingt: ›Natürlich sind die Perspektiven der weißen Arbeiterklasse schlechter geworden, J. D., aber Du zäumst das Pferd von hinten auf. Sie scheiden sich öfter, heiraten seltener und fühlen sich unglücklicher, weil ihre ökonomischen Chancen gesunken sind. Wenn sie nur Zugang zu besseren Arbeitsplätzen hätten, dann würden die anderen Teile ihres Lebens sich auch verbessern.‹« Er habe als junger Mensch »diese Meinung selbst einmal gehabt und wollte unbedingt daran glauben«. Das Problem sei jedoch »eine Kultur, die zusehends den sozialen Zerfall begünstigt, anstatt dagegen etwas zu tun«.

Die »Hillbilly-Elegy« sei, schrieb Sarah Jones, die tatsächlich aus subproletarischen Verhältnissen im Grenzgebiet zwischen Tennessee und Virginia stammt, in The New Republic, »wenig mehr als die Auflistung aller Mythen über Sozialschmarotzer, neu verpackt als Grundkurs über die weiße Arbeiterklasse«, mit dem neoliberalen Mantra der Eigenverantwortung. Dagegen schaue sie »auf meine Heimat und sehe eine Region, die von ihrer Regierung im Stich gelassen wird, obwohl die gewählt ist, ihr zu dienen. Meine High School hatte nicht genügend Schulbücher und die halbe Ausstattung in unserem Naturwissenschaftsbereich war kaputt. Einige meiner Klassenkameraden hatten nicht genug zu essen, andere trugen dieselben Klamotten jeden Tag«.

In Kentucky war man über Vance nicht glücklich: Der Lexington Herald-Leader fühlte ihm auf den Zahn: Vance behaupte, er »sei ein Hillbilly. Aber dann kritisiert er sie aus der Ferne«. Er behaupte zudem, er sei aus dieser »Kultur in der Krise« »ausgestiegen«. Die »einzigen Hillbillies« aber, »die ›aussteigen‹, waren seine Großeltern.« »Die Ironie des überwältigenden Erfolgs« von »Hillbilly-Elegy«, schreibt Eileen Jones 2020 anlässlich der Verfilmung, sei, dass das Buch »sich wie die abschätzige Darstellung der Armut der Appalachen von einem Outsider liest, aber mit der Behauptung vermarktet wurde, es handele sich dabei um einen Insider-Repor.«.

Vances Buch erschien mitten im Wahlkampf 2016 und wurde dann trotz allem in den USA und auch hierzulande als Analyse gelesen, warum ein wachsender Teil der noch zur Wahl gehenden weißen Arbeiterklasse für Trump stimmte. Die New York Times erklärte »Hillbilly-Elegy« zu einem von sechs Büchern zur Erklärung von Trumps Triumph. Die »Elegie« war in Aspekten tatsächlich nützlicher als »What Happened«, das Niederlagenresümee von Hillary Clinton in Buchform, die die weißen Wähler aus der Arbeiterklasse im Wahlkampf als »deplorables« (Abschaum) bezeichnet hatte, aber als einzige Erklärung für die ganz und gar unerklärliche Niederlage anführte: Schuld seien »der Russe«, die (Sanders-)Linke und die Männer.

An Trump ließ Vance damals noch kein gutes Haar. Er sei »abscheulich«, ein »totaler Betrüger« und ein »moralisches Desaster«, er wirke wie »kulturelles Heroin«. Zeitweilig nannte er ihn gar »Amerikas Hitler«. Dass Vance dann scheinbar plötzlich Republikaner wurde, empörte viele Liberale. Man könne, urteilt selbst heute noch die Zeit, »einem Buch nicht unbedingt vorwerfen, Karriere aufgrund falscher Leseerwartungen gemacht zu haben«. Der »Aufklärungsbedarf« sei »eben groß« gewesen.

Wer aber wirklich wissen wollte, wie die weiße Arbeiterklasse in den USA tickt, las schon lange andere Autoren: Joe Bageant mit »Deer Hunting With Jesus« und »Rainbow Pie«, Jim Goads »The Redneck Manifesto« und Elizabeth Cattes »What You Are Getting Wrong About Appalachia«. Das sind authentische Stimmen der weißen Arbeiterklasse im Mittleren Westen und im Süden. Viele lasen Arlie Hochschilds »Strangers in Their Own Land« mit Gewinn. Lernen ließ sich auch etwas aus den Schriften von Thomas Frank und dem von ihm in »One Market Under God« und »Pity the Billionaire« beschriebenen Phänomen des »Marktpopulismus«. Auch zeigte eine Reihe von eindrucksvollen Schriften die Genealogie einer marktorientierten Religiosität auf wie Chris Hedges’ »American Fascists«, Max Blumenthals »Republican Gomorrah« und Bethany Moretons »To Serve God and Wal-Mart«.

Die meisten, die Vance feierten, haben von all den Genannten noch nie etwas gehört, geschweige denn gelesen. Vance aber passte in die autofiktionale Literatur, für die im Nachgang der deutschen Übersetzung von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« Édouard Louis, Annie Ernaux, Christian Baron, Anke Stelling, Daniela Dröscher usw. stehen. Darin tritt, Baron ausgenommen, Klasse nicht als soziales Verhältnis zwischen Kapitalbesitzer und eigentumslosem Lohnarbeiter, zwischen Immobilieneigentümer und Mieter in Erscheinung, sondern als eine bloße weitere Form der Diskriminierung ins Bewusstsein.

Die Erschütterung über Vances republikanische Karriere ist bezeichnend. Er ist nicht plötzlich nach Erscheinen des Buches prokapitalistisch-rechts geworden. Er war es längst. Der Chefredakteur der rechten National Review, der Silicon-Valley-Milliardär Peter Thiel, der wie die Inkarnation des absoluten Bösewichts in Hollywoodstreifen erscheint, und auch die »Tigermutter« Amy Chua, bekannt für ihre rechte Massenpädagogik, bewarben das Buch auf dem Klappentext. Vance selbst war zu dieser Zeit bereits Kolumnist der National Review und Thiels Protegé.

Vances Lebensweg erzählt von Vance ist nun schnell erzählt. Nach dem Studium geht er ins Silicon Valley, wo der rechtsextrem-marktradikale Milliardär Peter Thiel sein Mentor wird. Mit Hilfe von dessen Vermögen mausert sich Vance bei der Investmentfirma »Revolution LLC« zum Risikokapitalisten und arbeitet bei Thiels »Mithril Capital Management«. Vances Aufgabe war es, Kapitalinvestitionen im Hillbilly-Land zu vermitteln. Daraus entstand irgendwann der Plan, in die Politik zu gehen. 2022 finanzierte Thiel maßgeblich Vances erfolgreiche Wahlkampagne zum Senator in Ohio. Und über Thiel kam Vance auch zu Curtis Yarvin, der aufgrund seines »neomonarchistisch«-antidemokratischen Denkens im Silicon Valley ein rechtsintellektueller Star ist.

Aber wie kam Vance nun zu Trump oder umgekehrt? Schon 2017 begann Vance den damals neuen Präsidenten Trump zu loben. Aus dem »Feind« sei »ein Fan« geworden, titelte die Financial Times. Vance lobte, dass Trump nun Abstand von seinen Wahlkampfversprechen genommen habe, die Steuern auf Hedgefonds zu erhöhen oder Steuerschlupflöcher zu schließen. Pikanterweise geschah dies zur selben Zeit, in der Vance persönlich sein Geld in Private-Equity-Fonds investierte und zusammen mit dem AOL-Mitgründer Steve Case den Risikokapitalfonds »Rise of the Rest Seed Fund« gründete, in den dann einige der größten rechten Milliardäre investierten: die Koch-Brüder, Jeff Bezos, die Waltons und Ray Dalio.

Im Wahlkampf kam heraus, dass Vance persönlich von Steuerschlupflöchern der Superreichen profitierte, die sein Gegner, der Demokrat Tim Ryan, schließen wollte. Diese Tatsache und die Unterstützung von Thiel und Trump haben Vance in der Linken darum die Bezeichnung des »Populistendarstellers« eingebracht. Er sei entgegen seiner Selbstinszenierung schließlich kein »konservativer Außenseiter«, sondern agiere mit der Unterstützung einiger der reichsten Menschen der Welt und des Expräsidenten.

Radikaler Subjektivismus

Eine Aussicht auf das, was nach erfolgreichen Wahlen unter einer Regierung Trump/Vance bevorsteht, gibt Vances Bilanz als Senator. Beide sprechen im Namen nationaler Interessen. Vance behauptet, Konzerne höher besteuern zu wollen, wenn sie Jobs ins Ausland verlagern. Aber wie national war es, als Vance im Juni vergangenen Jahres im Interesse der chemischen Industrie Umweltauflagen für Transporte abschwächte, die erhoben wurden, um die Umwelt- und Gesundheitsschäden durch schlecht isolierte, 60 Jahre alte Zugwaggons zu beenden?

Gesellschaftspolitisch geht es rückwärts. Im Juni kämpfe Vance gegen ein im Vorjahr von der Biden-Regierung vorgelegtes Gesetz, das es der Polizei verboten hätte, die ärztliche Schweigepflicht zu brechen und medizinische Informationen von Patientinnen einzusehen, die eine Schwangerschaft beenden wollen. Vance setzt sich für ein nationales Abtreibungsverbot ein. Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch soll, wenn es nach ihm geht, nicht einmal in Ausnahmefällen von Inzest oder von Vergewaltigungen gelten, die Vance als »inconvenience« bezeichnet hat.

Zugleich will Vance Ehescheidungen dahingehend erschweren, dass Frauen begründen müssen, warum sie ihre unglücklichen Ehen hinter sich lassen wollen. Es sei eine Folge der »sexuellen Revolution«, dass Frauen sich von ihren »möglicherweise auch gewalttätigen« Männern trennen würden, so »wie man seine Unterwäsche wechselt«. Kinderlose Frauen erscheinen bei ihm als »kinderlose Katzenladies«. Die Zahlung von Eltern- und Kindergeld bezeichnet er indes als »Klassenkampf gegen die normalen Leute«. Hinter Vances Einschätzung steht die Wahrnehmung, dass nicht der Kapitalismus, sondern »eine besondere Krise der Männlichkeit« und der Verlust des religiösen Glaubens hinter dem Elend der weißen Arbeiterklasse und der Drogensucht seiner Mutter stecke.

Vance passt in diese Zeit. Er gehört in eine Ära des radikalen Subjektivismus, in der Weltanschauung und Denken in Strukturen nichts gelten, sondern alles nach Identität und Authentizität giert. Er passt in eine Kultur, in der es schon als kulturelle Aneignung gilt, am Allgemeinen festzuhalten, statt mit dem eigenen Ich in Opferkonkurrenz hausieren zu gehen.

Mit seiner Lebenslüge ist Vance in der extremen Rechten zu Hause. Bekanntlich zieht die besonders viele halbkriminelle, zwielichtige und oft gewalttätige Elemente an, so dass die Lüge hier zum System wird. Die Logik ist einfach: Der rechte Konservatismus lebt von einer negativen Anthropologie, einem schlechten Menschenbild. Das drückt sich schon im rechten Hass auf die »Gutmenschen« aus. Wer aber von seinen Mitmenschen immer bloß das Allerschlechteste erwartet, der muss in dauerhafte Habachtstellung gehen, er muss im Duell des Lebens schneller schießen als sein Gegenüber, er muss selber schlecht, egoistisch und verlogen handeln, um den anderen zuvorzukommen. Schließlich würden die es ja genauso machen.

Glaubt Trump seinen Lügen, derer er öffentlich überführt wurde? Glaubt er wirklich, er sei ein »Stable Genius«? Glaubt er tatsächlich, dass er die US-Präsidentschaftswahl 2020 in Wahrheit gar nicht verloren hat, sondern die Demokraten das Ergebnis manipulierten? Es ist anzunehmen. Und Vance? Glaubt er wirklich zu sein, was er behauptet zu sein? In jedem Fall will er das glauben machen. Darin besteht seine Tiefhochstapelei. Ohne sie wäre er ein Niemand, eine Charaktermaske, die Geld scheffelt.

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 30. Mai über den Musiker, Liedermacher und Grafiker Dieter Süverkrüp.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Peter S. aus Berlin (28. Juli 2024 um 21:17 Uhr)
    Ein wenig scheint mir der Artikel den Eindruck vermitteln zu wollen, es handele sich bei JD Vance um ein negatives Ausnahmeexemplar unter den amerikanischen Politikern, was die Summe seiner Verfehlungen betrifft, um einen besonders schlimmen und sogar heimtückischen Fall. Dem kann man wohl gut begründet widersprechen, er ist diesbezüglich kein Ausnahmeexemplar, sondern eher der Regelfall, sowohl bei Reps als auch bei Dems. Reiht sich also gut ein in die amerikanische Politikerriege.

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