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Aus: Ausgabe vom 27.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Die ganze Wahrheit

Pedro Badráns Roman über Macht und Verbrechen in der kolumbianischen Provinz
Von Erich Hackl
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»Man ist es dem Toten schuldig« – Pedro Badrán

Nach Angaben des Nationalen Zentrums für historisches Gedenken sind seit Beginn des »bewaffneten Konflikts« in Kolumbien weit über 110.000 Personen als abgängig gemeldet worden. Ihr Verschwinden bedeutet nichts anderes, als dass sie ermordet wurden, die Leichen jedoch nicht gefunden oder identifiziert werden konnten. Viele von ihnen, vielleicht die meisten, sind nicht verscharrt oder verbrannt, sondern in Gewässer wie den mächtigen Magdalenenstrom geworfen worden, der in der Zentralkordillere entspringt und 1.600 Kilometer weiter nördlich, bei Barranquilla, in das Karibische Meer mündet. Eine detailreiche, dabei hochpoetische Chronik der Reporterin Patricia Nieto, »Los escogidos«, widmet sich sowohl den namenlosen Toten, deren Überreste von Fischern aus dem Río Magdalena gezogen und auf dem Friedhof der Hafenstadt Puerto Berrío bestattet werden, als auch den frommen, mitleidigen Nachbarinnen, die alles tun, damit die Seelen der Toten ihren Frieden finden.

Es ist gut möglich, dass Puerto Berrío das Vorbild für den fiktiven Schauplatz abgibt, in dem Pedro Badrán seinen Roman »Verbrechen in der Provinz« angesiedelt hat, der vor zwei Jahren in Bogotá erschienen ist und nun auch auf deutsch vorliegt. Puerto E. liegt, wie Puerto Berrío, am Unterlauf des Río Magdalena und ist der Wohnort des Ich-Erzählers Rodolfo Cuesta, der herausfinden will, wer den Mord an seinem Freund und Arbeitskollegen, dem Arzt Horacio Maldonado, in Auftrag gegeben hat. Im Zuge seiner Nachforschungen deckt er das Geheimnis der eigenen Herkunft auf, über die ihn seine Mutter im unklaren belassen hatte. Außerdem erhärtet sich der Verdacht, dass Horacios Vater, ein einflussreicher Unternehmer und Parlamentsabgeordneter, das Verbrechen begangen oder stillschweigend in Kauf genommen hat.

Anders als das Original trägt die deutsche Ausgabe einen Untertitel, »Auch ein Kriminalroman«, der richtig und falsch zugleich ist. Richtig, weil Badrán Elemente des Kriminalromans verwendet, um ein rätselhaftes Ereignis literarisch darzustellen, und falsch, weil sein Protagonist weder Kommissar noch Detektiv ist und den Mord an seinem Freund letztlich nicht aufklären kann. In Interviews bei Erscheinen des Romans hat der Autor deshalb auch bestritten, dass es in Kolumbien möglich sei, Kriminalromane zu schreiben. Denn die meisten Verbrechen würden von staatlichen oder vom Staat geduldeten bzw. geförderten Instanzen begangen, die Täter nie gefasst. Wo es aber keine Gerechtigkeit gebe, nicht einmal den Glauben an sie, könnten Kriminalromane nicht bestehen. Deshalb habe es auch jahrelang gedauert, bis er für den wahren Kern des Romans – die Geschichte eines Arztes im Departamento Bolívar, der kranke oder verwundete Guerrilleros behandelt hatte – die passende Fabel gefunden habe.

»Auch ein Kriminalroman« also, aber kein typischer, erkennbarer. Ein Roman über Leben und Sterben in einer Provinzstadt mit kaputten Straßen, Ständen mit Kokoswasser und Maispasteten, Geschenkeläden, Schuhgeschäften, Bars, Billardspelunken, Bordellen und dem Gemeindespital, weitab von jeder Metropole im Hinterland der Karibik, einer Gegend also, der man angeblich nur mit den Mitteln des magischen Realismus beikommen kann, weil ihre Bewohner Phantasie und Traum der realen Welt einverleiben. Aber Badrán pocht darauf, und sein Roman beweist es, dass die literarische Tradition der Karibik vielfältig ist. »Ich versuche, diese Tradition fortzusetzen, aber für jeden Stoff das angemessene Format zu finden.« Hier eben die Geschichte eines Verbrechens und der geduldigen Nachforschungen über dieses Verbrechen, nichts an überschäumenden Gefühlen, extravaganten Verhaltensweisen und unerklärlichen Vorgängen. Badrán vermeidet grelle Effekte, jähe Wendungen – trotzdem liest man den Roman mit wachsender Spannung und großem Genuss, der ungezierten Sprache und des ruhigen Tonfalls wegen und weil der Autor Menschen, Landschaften, Situationen in wenigen Sätzen so zu beschreiben versteht, dass sie vor den Augen der Leserin, des Lesers entstehen.

In Kolumbien, heißt es, wird das schönste Spanisch gesprochen, und gemeint ist mit dieser Behauptung, dass sich im Wortschatz der Einwohner Begriffe erhalten haben, die in den anderen spanischsprachigen Ländern ausgestorben sind. Ausdrücke, Begriffe, die früher den gehobenen Ständen eigen waren und jetzt vom Volk lebendig gehalten werden. Diese Wörter geben sich im Roman sogar noch auf deutsch zu erkennen, dank des Übersetzers Richard Gross, dem überhaupt manches Bravourstück gelingt, so wenn er das Wiedersehen zwischen dem Erzähler und seiner Jugendfreundin Mariela, der Schwester des Ermordeten, an einem »grimmig verregneten Tag« stattfinden lässt oder die Stimmung am Fluss, in der hereinbrechenden Dämmerung, mit dem Hinweis trifft, dass »die Luft und die Stille lauschiger« wurden und kleine Wellen »den Wasserspiegel riffelten«. Gross ist wahrscheinlich auch das Glossar am Ende des Buches zu verdanken, das die Kenntnis von Land und Leuten, zu der einem Badráns Roman verhelfen kann, auf unaufdringliche Weise vertieft.

Für den Umschlag hat der Verlag ein Ölgemälde des großen kolumbianischen Malers Alejandro Obregón herangezogen. Der Zauber, der von den kühnen Formen und Farben dieses Bildes ausgeht, lässt einem keine andere Wahl, als stante pede in einen Roman einzutauchen, dessen Held, der Ich-Erzähler, nicht die wünschenswerte, sondern die ganze Wahrheit sucht. »Man ist es dem Toten schuldig. Nicht um Rache zu üben, sondern um zu heilen und zu verstehen.«

Pedro Badrán: Verbrechen in der Provinz. Auch ein Kriminalroman. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Richard Gross. Edition 8, Zürich 2024, 178 Seiten, 26 Euro

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