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Aus: Ausgabe vom 27.07.2024, Seite 15 / Geschichte
Faschismus

»Geh ein in Walhall!«

2. August 1934: Hindenburg stirbt, Hitler wird sein »Nachfolger«
Von Manfred Weißbecker
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Am 2. August des Jahres 1934, vormittags neun Uhr, starb der 86jährige Paul von Beneckendorff und von Hindenburg, jener Mann, der 1925 und 1932 gemäß der Weimarer Verfassung direkt als Reichspräsident gewählt worden war. Unter Missbrauch seines Amtes hatte er maßgeblich zur Errichtung des diktatorischen Hitlerregimes beigetragen. Selbst die staatsterroristischen Aktionen vom 30. Juni 1934 waren von ihm in aller Öffentlichkeit mit den Worten gerechtfertigt worden, Hitler habe »das deutsche Volk aus einer schweren Gefahr gerettet«. Nun bekundete dieser, der Tote solle umfänglich betrauert werden, weil er am 30. Januar 1933 »für die junge nationalsozialistische Bewegung die Tore des Reiches aufgeschlossen« habe, ein »Schirmherr des Nationalsozialismus« und »Vollstrecker der Vorsehung« gewesen sei.

Neues Gesetz

Hindenburgs Tod war absehbar gewesen; Ärzte hatten am Tag zuvor erklärt, er werde höchstens noch 24 Stunden am Leben bleiben. Das veranlasste den Kanzler, den Teilnehmern einer Ministerbesprechung den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen. Der Inhalt: »Das Amt des Reichspräsidenten wird mit dem des Reichskanzlers vereinigt. Infolgedessen gehen die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten auf den Führer und Reichskanzler über.« In Kraft treten sollte das Gesetz mit dem Ableben Hindenburgs. Alle stimmten zu. Niemand protestierte, obwohl es nicht nur gegen die offiziell noch gültige Weimarer Verfassung verstieß, sondern auch gegen das vom Reichstag im März des Vorjahres beschlossene Ermächtigungsgesetz. Carl Schmitt, der bekannte konservative Staats- und Völkerrechtler, brauchte nach den Staatsverbrechen vom 30. Juni 1934 nur noch eine juristische Legitimation dessen zu formulieren, was im faschistischen Deutschland durchgesetzt worden war: »Der Führer setzt das Recht.«

Die Tatsache, dass der Text des Gesetzentwurfs erst während der Sitzung verteilt wurde, lässt auf eilig angestellte Überlegungen und rasch getroffene Entscheidungen schließen. Doch weit gefehlt! Die Beseitigung des Reichspräsidentenamtes und das Zusammenlegen der Ämter von Staatsoberhaupt und Regierungschef waren bereits seit langem vorgesehen. Dieser weitere Bruch der Verfassung – sie sah im Falle einer Verhinderung des Reichspräsidenten nur eine kurzzeitige Vertretung durch den Reichskanzler vor und verlangte danach eine gesetzliche Regelung dieser Vertretung – war beschlossene Sache. Nachweislich hatte es dazu bereits im Frühjahr und Sommer 1933 in internen Zirkeln Beratungen gegeben. Joseph Goebbels notierte am 2. Juni in seinem Tagebuch, die »Frage der Nachfolge Hindenburgs« sei entschieden, Hitler werde »Reichsverweser«. Froh betonte er, die Reichswehr habe bereits ihr Einverständnis erklärt. Nach einer weiteren und »grundsätzlichen« Aussprache mit Hitler schrieb der Propagandaminister am 25. August 1933: »Was nach Hindenburgs Tod? Sofort Hitler ausgerufen. Aber doch Votum des Volkes. Kanzler und Reichspräsident in seinem Amt vereinigt. Neue Stellung des Kanzlers in jeder Hinsicht. Hitler eindeutig Führer in jeder Richtung.«

Neue Eidesformel

Auch die Reichswehrführung ging also nicht unvorbereitet vor, als sich Hitler die Gelegenheit zur Realisierung dieser Pläne bot. Sie verzichtete darauf, sich für einen Nachfolger möglichst aus den eigenen Reihen auszusprechen, obwohl dies den Absichten konservativer und auf Restauration der Monarchie hoffender Kreise durchaus entsprochen hätte. Dankbar für den Platz, der ihr im Herrschaftsapparat und bei der Wiederaufrüstung eingeräumt wurde, dankbar auch für die Ausschaltung der konkurrierenden SA im sogenannten Röhm-Putsch, keineswegs also bloß aus »opportunistischem Übereifer«, wie Joachim C. Fest meint, verwendete sie am 2. August 1934 bei der Vereidigung der Soldaten eine neue Formel: »Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.« Die gleiche, nicht mehr auf die Verfassung, sondern auf die Person Hitlers bezogene Eidesleistung wurde alsbald auch allen Beamten abverlangt. Diensteifrige Herren des Frickschen Innenministeriums hatten sich auch schon Gedanken beispielsweise darüber gemacht, was nach dem vorgesehenen Erlöschen des Amtes mit den Bezügen des Reichspräsidenten (37.800 Reichsmark [RM] Gehalt, 120.000 RM Aufwandsentschädigung, 100.000 RM Dispositionsfonds) geschehen solle. Eilfertig meinten sie, diese Gelder stünden dann dem Reichskanzler zusätzlich zu. Begründung: Das Besoldungsgesetz sehe zwar vor, dass ein Beamter beim »Bekleiden mehrerer Ämter« nur das höchste Gehalt beziehen dürfe, aber weder Präsident noch Kanzler seien ja Beamte.

Mit großem Aufwand organisierte Goebbels Trauerkundgebungen und -feierlichkeiten aller Art. Die offizielle Veranstaltung fand am 6. August im Reichstag statt. Tags darauf folgte ein pompös in Szene gesetztes Staatsbegräbnis. Obwohl der Verstorbene gewünscht hatte, auf seinem Gut Neudeck begraben zu werden, setzte man ihn im größten deutschen Kriegerdenkmal bei, für das zehn Jahre zuvor in Ostpreußen der Grundstein gelegt worden war und das an den deutschen Schlachtenerfolg von 1914 bei Tannenberg erinnern sollte. Einladungen zum Begräbnis ergingen nur an männliche Teilnehmer, angeblich der »Enge des Raumes« geschuldet. Hindenburgs Sarg wurde mit allen militärischen Ehren in einen der acht Wehrtürme des 1935 in »Reichsehrenmal Tannenberg« umgetauften Denkmals überführt. Alle Reden, die zumeist den Sieger von Tannenberg glorifizierten und weniger den Reichspräsidenten würdigten, wurden im Rundfunk übertragen und Gemeinschaftsempfänge organisiert. So konnte jeder in Deutschland hören, dass Hitler seine Huldigung des Marschalls mit dem teutonischen – den christlichen Jenseitsvorstellungen Hindenburgs sicher nicht entsprechenden – Ausruf beendete: »Toter Feldherr, geh ein in Walhall!«

Abstimmungsschlappe

Das Regime sah mit dem Tod des Reichspräsidenten auch die Zeit für eine allgemeine Amnestie gekommen. Hitler unterzeichnete am 7. August 1934 das Gesetz über die »Gewährung von Straffreiheit«. Es betraf etwa 1,5 Millionen Häftlinge, darunter rund 20.000 sogenannte politische Straftäter. Ausgenommen von der Amnestierung blieben Hoch- und Landesverrat, Verbrechen gegen das Leben und Sprengstoffverbrechen. Hingegen wurde amnestiert, wer sich »durch Übereifer im Kampf für den nationalsozialistischen Gedanken hat hinreißen lassen«.

Noch bevor diese umfangreich-pompösen Trauerfeiern über die Bühne gingen, waren jene bedeutsamen Entscheidungen gefallen, die das faschistische Herrschaftssystem befestigen halfen, ihm größere Geschlossenheit boten und weitere Voraussetzungen, in rascherem Tempo die anvisierten Ziele zu verwirklichen. Der Marsch in den Krieg beschleunigte sich. Und die Deutschen erhielten nur noch Gelegenheit zur Akklamation. Die wenigen Tage vor der Volksabstimmung vom 19. August 1934 nutzte die NSDAP zu einem wahren propagandistischen Trommelfeuer.

Als die Stimmberechtigten über das Gesetz befinden durften, das Hitler zum Staatsoberhaupt erhoben hatte, war ihnen nur das Ja oder das Nein geblieben oder ein Boykott, der indessen für viele schon nicht mehr als folgenlos angesehen werden konnte. Ebenso musste befürchtet werden, dass die Geheimhaltung des Abstimmungsverhaltens nicht mehr gesichert war. Dennoch verweigerten sich etwa zwei Millionen der Farce. Die Zahl der Neinstimmen betrug mehr als vier Millionen (10,1 Prozent). Rund 872.000 Stimmzettel wurden für ungültig erklärt. Damit blieb das Ergebnis hinter den Erwartungen der Machthaber zurück, doch in ihm war keinerlei geschlossene oder gar aktionsfähige Opposition zu erkennen. Verglichen mit den Anteilen, die in früheren Wahlen von KPD und SPD erreicht worden waren, konnten die Initiatoren sogar zufrieden sein.

Am Tage nach dieser Abstimmung erklärte Hitler, »der Kampf um die Staatsgewalt« sei beendet. Und eine Proklamation des »Führers«, die Anfang September vor dem Parteitag in Nürnberg verlesen wurde, enthielt nicht nur das Argument, die Revolution habe »restlos erfüllt, was von ihr erwartet werden konnte«, sondern drohend auch die Prophezeiung: »In den nächsten tausend Jahren findet in Deutschland keine Revolution mehr statt.«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Lothar Z. aus Hamburg (27. Juli 2024 um 20:59 Uhr)
    Im Jahre 1935 veröffentlichte der Hamburger Professor der klassischen Philologie Bruno Snell in der wissenschaftlichen Zeitschrift »Hermes« einen Aufsatz mit dem Titel »Das I-Ah des goldenen Esels«. Es ging darin auf lediglich einer einzigen Druckseite und ohne eine einzige Fußnote um die Frage, weshalb ein Esel in dem Roman des lateinischen Autors Apuleius immer nur »O« sagt. Snell fand heraus, dass er im griechischen Original »ou« gesagt haben muss – ein Wort, das »nicht« oder »nein« bedeutet. Am Ende des Artikels stellt er fest, es sei doch bemerkenswert, »dass das einzige wirkliche Wort, das ein griechischer Esel sprechen konnte, das Wort für ›nein‹ war, während kurioserweise die deutschen Esel gerade umgekehrt immer nur ›ja‹ sagen.« In einer Ausgabe von Snells »Kleinen Schriften« wird diesem Aufsatz ein Foto einer Litfaßsäule hinzugefügt, auf der ein Aufruf im Rahmen der Kampagne der Nazis zur Volksabstimmung vom 19. August 1934 prangt: »Ein ganzes Volk sagt zum 19. August: Ja.«

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