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Aus: Ausgabe vom 01.08.2024, Seite 4 / Inland
Kriegsvorbereitung

Regierung wiegelt ab

Raketenstationierung: Unruhe in der SPD. Pistorius versucht sich in »Beruhigung«. Exgeneral träumt von »Operationsfreiheit im Einsatzraum«
Von Kristian Stemmler
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Pistorius will das nicht wieder sehen: Einst mobilisierte die Friedensbewegung Hunderttausende (Bonn, 10.10.1981)

Einer politischen Diskussion über die beiläufig angekündigte Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland ab 2026 wird die Bundesregierung nicht mehr ausweichen können, denn selbst in der Partei des Bundeskanzlers wächst die Unruhe. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius versucht weiter unverdrossen, den Ball flach zu halten. Es gehe bei der Stationierung um konventionelle Waffen, die nicht für die Bestückung mit nuklearen Sprengköpfen vorgesehen seien, behauptete der Minister am Rande eines Besuches in Hawaii. Dies müsse man »zur Beruhigung all derer, die sich hier Sorgen machen, sehr deutlich unterstreichen«, fügte er hinzu. Mit dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss sei das aktuelle Vorhaben »nicht vergleichbar«, und man müsse »die Dinge sorgfältig auseinanderhalten«. Anfang der 1980er waren in der Bundesrepublik Hunderttausende gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen auf die Straße gegangen.

Damals wurde die Stationierung ebenfalls mit einer angeblichen Bedrohung aus dem Osten begründet. Zur »Abschreckung«, so der offizielle Regierungsstandpunkt, sollen nun unter anderem »Tomahawk«-Marschflugkörper und neuartige Hyperschallraketen in der Bundesrepublik aufgefahren werden.

Gegen eine parlamentarische Befassung mit der Entscheidung spreche nichts, erklärte Pistorius jetzt. Es sei aber »originär kein Thema, was zuvor im Parlament diskutiert werden müsste«. Der Minister wiederholte den Vorwurf, es sei Russland gewesen, das den Rüstungskontrollvertrag INF, der nukleare Mittelstreckensysteme regelt, verletzt und aufgekündigt habe. Es gehe jetzt darum, »diese Lücke auf unserer Seite zu schließen«. Dies geschehe, um deutlich zu machen, dass ein eventueller Angriff »auf NATO-Gebiet« für Russland einen so hohen Preis hätte, »dass das Risiko nicht mehr kalkulierbar wäre«.

Mit seinen Äußerungen reagierte der Minister auch auf Kritik aus der eigenen Partei. Nach Fraktionschef Rolf Mützenich zeigte sich auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner wenig begeistert vom Stationierungsvorhaben. Man dürfe »die Welt nicht gefährlicher machen, nicht in einen neuen Rüstungswettlauf eintreten«, warnte Stegner am Mittwoch im Radiosender WDR 5. »Wir müssen sehen, dass wir mit Russland in Verhandlungen eintreten«, ergänzte Stegner. Der frühere Parteichef Norbert Walter-Borjans hatte am Dienstag die fehlende Debatte über die Entscheidung moniert und sich die Frage erlaubt, ob die Stationierung die Sicherheit »tatsächlich erhöht«.

Die Grünen, die nichts gegen die Stationierung haben, machen ein wenig in Manöverkritik. Die Kovorsitzende Ricarda Lang sagte bei RTL/N-TV: »Es wäre gut gewesen, wenn Olaf Scholz als Bundeskanzler die Chance genutzt hätte, diese Entscheidung transparent der Bevölkerung zu kommunizieren und die Beweggründe offenzulegen.« Lang erklärte, es sei sinnvoll, »eine gesellschaftliche und politisch stärkere Debatte darüber zu führen«, auch mit Blick auf Sorgen der Bevölkerung. Bedenken gegen die Stationierung äußerte sie nicht.

Schützenhilfe für die Regierung kommt aus dem publizistischen Dunstkreis des Verteidigungsministeriums. Die Stationierung der US-Raketen sei »dringend geboten«, dozierte Brigadegeneral a. D. Heinrich Fischer im Fachmagazin Europäische Sicherheit & Technik. Sie setze im Bündnis »ein klares Signal der USA als Führungsmacht« und verbessere »die Glaubwürdigkeit der Abschreckung durch einen konventionellen Fähigkeitszuwachs«. Die Waffen seien nötig, um russische »Militärpotentiale« zerstören zu können, die NATO-Truppen das Eindringen in einen »Operationsraum« oder die »Operationsfreiheit im Einsatzraum« verwehren können, so Fischer im Generalstabsdeutsch aus ganz alten Zeiten. Der Mann war zuletzt Kommandeur der Heeresschulen und Vizechef des Heeresamtes.

Kritik kommt etwa von Juliane Hauschulz von der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW). Die geplante Stationierung sei »ein weiterer Schritt im aktuellen Wettrüsten und bringe Instabilität und Unsicherheit, gerade für Deutschland und Europa«, erklärte sie gegenüber jW. Auch wenn die angekündigten Raketen keine Atomwaffen seien, erhöhten sie »das bereits enorme nukleare Risiko«. Sowohl die »Tomahawks« als auch die Hyperschallwaffen könnten tief in russisches Staatsgebiet eindringen und dabei nukleare Infrastruktur oder sogar Teile des russischen Atomwaffenarsenals treffen, so Hauschulz: »Gleichzeitig schrumpfen die Vorwarnzeiten und Entscheidungszeiträume auf Minuten zusammen.« Diese Waffensysteme erhöhten also nicht die nukleare Schwelle, »sondern im Gegenteil die Gefahr von katastrophalen Missverständnissen und Fehlkalkulationen«.

Die Aussage des Ministers, dass Russland den INF-Vertrag aufgekündigt habe, sei zudem falsch. Es stimme, dass Russland vorgeworfen werde, den Vertrag verletzt zu haben. »Aufgekündigt wurde der Vertrag jedoch von den USA unter Donald Trump, denen Russland ebenfalls Vertragsverletzungen vorwarf«, sagte Hauschulz.

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  • Leserbrief von Joachim Fröhlich aus Kirchseeon (15. August 2024 um 12:43 Uhr)
    Boris Pistorius – Spitzname Bumm Bumm Boris, in verlauteten Umfragen beliebter Bundesminister für Verteidigung und Abschreckung – nimmt seinen Auftrag ernst. Und so verteidigt Pistorius die Washingtoner Entscheidung zur Stationierung weitreichender US-Raketen in Deutschland auch in der geschützten Bucht von Honolulu auf Hawaii, dem Paradies für Wellenreiter und Hula-Tänzer, Pearl Harbor in der Nähe. Hier leitet die U. S. Navy das multinationale Manöver RIMPAC 24 für Nationen mit Interesse am Indo-Pazifik und Sorgen wegen China. Das deutsche Militär ist wieder dabei. Umgeben von frischer Meeresluft und gesundem Korpsgeist, in sicherem Abstand vom bösen Russen und Ampelalltag daheim, sagt ein gut gelaunter Pistorius, dass nun nichts mehr spricht gegen eine offene Aussprache der beschlossenen Raketen-Stationierung, im Parlament.
    Hoffentlich fällt auch der böse Russe in einen Zustand gehöriger Abschreckung und wird, wenn es darauf ankommt, Raketen mit konventionellen und atomaren Sprengköpfen sorgfältig auseinanderhalten, so wie Pistorius dieses Vorhaben jetzt sorgfältig auseinanderhält vom, wie er sagt, unvergleichbaren NATO-Doppelbeschluss damals. Bis dahin, und darüber hinaus, uns viel Glück!
  • Leserbrief von Joachim Fröhlich aus Kirchseeon (5. August 2024 um 11:14 Uhr)
    Boris Pistorius – Spitzname Bumm Bumm Boris, in verlauteten Umfragen beliebter Bundesminister für Verteidigung und Abschreckung – nimmt seinen Auftrag ernst. Und so verteidigt Pistorius die Washingtoner Entscheidung zur Stationierung weitreichender US-Raketen in Deutschland auch in der geschützten Bucht von Honolulu auf Hawaii, dem Paradies für Wellenreiter und Hula-Tänzer, Pearl Harbor in der Nähe. Hier leitet die US Navy das multinationale Manöver RIMPAC 24 für Nationen mit Interesse am Indo-Pazifik und Sorgen wegen China. Das deutsche Militär ist wieder dabei. Umgeben von frischer Meeresluft und gesundem Korpsgeist, in sicherem Abstand vom bösen Russen und Ampelalltag daheim, sagt ein gut gelaunter Pistorius, dass nun nichts mehr spricht gegen eine offene Aussprache der beschlossenen Raketen-Stationierung, im Parlament.

    Hoffentlich fällt auch der böse Russe in einen Zustand gehöriger Abschreckung und wird, wenn es darauf ankommt, Raketen mit konventionellen und atomaren Sprengköpfen sorgfältig auseinanderhalten, so wie Pistorius dieses Vorhaben jetzt sorgfältig auseinanderhält vom, wie er sagt, unvergleichbaren NATO-Doppelbeschluss damals. Bis dahin, und darüber hinaus, uns viel Glück!

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