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Aus: Ausgabe vom 01.08.2024, Seite 12 / Thema
Warschauer Aufstand 1944

Mutige Fehlkalkulation

Die polnische Heimatarmee löste am 1. August 1944 in Warschau einen Aufstand gegen die deutschen Besatzer aus. Dem Entschluss zur Erhebung lagen fehlgedeutete Informationen zugrunde
Von Kai Köhler
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Mit Befehl von »Reichsführer SS« Heinrich Himmler wüteten von August bis Oktober 1944 SS und Spezialeinheiten unter der Bevölkerung. Mindestens 150.000 Warschauer wurden massakriert. Die Stadt lag in Ruinen

Am 1. August 1944 begann in Warschau der Aufstand polnischer Partisanen gegen die deutsche Besatzung. Dabei handelte es sich um keine Konfrontation nur zweier Parteien. Zwar wurden die Kämpfe hauptsächlich zwischen den faschistischen Truppen und der stärksten Gruppe der Untergrundkämpfer ausgefochten, nämlich der nationalistischen Armia Krajowa, der Heimatarmee, die der polnischen Exilregierung in London unterstellt war. Wichtiger Faktor war jedoch auch die Sowjetunion, deren Truppen begonnen hatten, Polen von der Besatzung zu befreien. In deren Lager gehörten auch das am 22. Juli unter maßgeblicher kommunistischer Beteiligung gegründete Lubliner Komitee, das auf ein sozialistisches Nachkriegspolen hinarbeitete, und als sein militärischer Arm die Armia Ludowa, die Volksarmee. Zu nennen sind ferner die Westalliierten USA und Großbritannien, ideologisch der Exilregierung verbunden, doch durch den deutschen Faschismus in ein Bündnis mit der Sowjetunion gezwungen, das sie trotz aller Gegensätze noch halten wollten.

Die Ausgangslage

Mit der Niederlage Polens 1939 war sein Staatsgebiet geteilt worden. Im Norden und Osten erhielten die Sowjetunion und Litauen die Gebiete zurück, die Polen sich 1921 und 1922 angeeignet hatte. Der Westteil kam unter deutsche Kontrolle. Einige Gebiete wurden annektiert, der größere Teil wurde als »Generalgouvernement« einem sogar für deutsche Verhältnisse brutalen Besatzungsregime unterworfen. Folglich fanden sich – anders als in den meisten anderen faschistisch kontrollierten Gebieten – in Polen auch dann fast keine Kollaborateure, als die Besatzer sehr spät Möglichkeiten einer antibolschewistischen Zusammenarbeit ausloteten.

Dabei waren Antikommunismus und Russland-Feindschaft in der herrschenden Klasse Polens und teils in der Bevölkerung weitverbreitet. Die ausschließliche Schuld der deutschen Führung am Kriegsbeginn 1939 ist nicht zu relativieren. Zugleich gilt, dass die polnische Regierung in den Verhandlungen im Frühjahr und Sommer 1939 nicht etwa ein möglichst starkes Bündnis gegen Deutschland anstrebte, sondern eine wirksame Beteiligung der Roten Armee bei einem Krieg gegen den Faschismus als Hauptproblem sah. Damit erzwang sie den Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der UdSSR, der heute unter der irreführenden Bezeichnung »Hitler-Stalin-Pakt« läuft und aus sowjetischer Perspektive die notwendige Sicherung gegen ein umfassendes antibolschewistisches Bündnis darstellte.

Die polnische Exilregierung, die in London ansässig war, bestand zwar überwiegend aus Politikern, die sich an der Militärdiktatur, die seit dem Putsch Józef Piłsudskis 1926 in Warschau geherrscht hatte, nicht beteiligt hatten. Doch waren auch sie kompromisslos antikommunistisch. Und auch sie strebten ein Großpolen an, wie es bis zum Kriegsbeginn bestanden hatte, unter Einschluss sogar jenes Gebiets, das sich Polen im Oktober 1938 von der nach dem Münchner Abkommen geschwächten Tschechoslowakei als seinen Teil der Beute gesichert hatte. Der kaum auflösbare Widerspruch ist also, dass die Heimatarmee einen angesichts der deutschen Kriegsschuld und Besatzungsgreuel gerechtfertigten Befreiungskampf führte, dass dieser aber auf ein aggressives antirussisches Gebilde hinauslief, wie es nun das heutige Polen ist.

Solange Deutschland den Krieg zu gewinnen schien, war der Widerspruch für die Praxis unbedeutend. Dies änderte sich mit veränderter Kriegslage. Mit der Schlacht von Stalingrad 1942/43 ging die Sowjetunion strategisch von der Verteidigung zum Angriff über, und im April 1943 brach sie die Beziehungen zur polnischen Exilregierung ab und begann, politisch nahestehende Kräfte für ein fortschrittliches Nachkriegspolen zu unterstützen.

Auch zu diesem Zeitpunkt war die Front noch von der früheren sowjetischen Westgrenze entfernt. Im Sommer 1944 stellte sich die Lage ganz anders dar. Weite Teile der Sowjetunion waren befreit, und am 22. Juni begann die Rote Armee ihre Sommeroffensive. Der Termin war mit den Westmächten, deren Truppen am 6. Juni in der Normandie gelandet waren und endlich eine nennenswerte zweite Front eröffnet hatten, abgestimmt. Binnen weniger Wochen rückten die sowjetischen Kräfte bis zu 500 Kilometer vor und zerschlugen einen Großteil der deutschen Heeresgruppe Mitte. Allerdings kosteten das Vormarschtempo und die Härte der Kämpfe ihren Preis. Gegen Ende August waren auch die Angreifer merklich geschwächt. Die für den Warschauer Bereich maßgebliche Erste Weißrussische Front, die ihren Vormarsch am 18. Juli begonnen hatte, büßte bis zum 8. August etwa 100.000 gefallene oder verwundete Soldaten ein. Der Bestand der Zweiten Panzerarmee war von 810 auf 263 Panzer geschrumpft. Die Logistik war nicht in ausreichendem Maße nachgerückt.

Dies erzwang Schwerpunktsetzungen. Schon vor Aufstandsbeginn, am 27. Juli, traf Stalin mit der Militärspitze die strategische Grundsatzentscheidung, Warschau zunächst nicht anzugreifen. Der kürzeste Weg nach Berlin, der von Warschau direkt nach Westen führte, wäre zugleich der härteste gewesen. Statt ihn zu wählen, wurden die Flanken gestärkt. Deutlich südlich von Warschau erkämpfte die Rote Armee zwei Brückenköpfe am westlichen Weichselufer, die die Befreiung des Balkan unterstützen konnten. Der Vorstoß nach Südosten wurde dann zum Schwerpunkt der weiteren Offensive.

Zu schwache sowjetische Kräfte, die in die Nähe Warschaus gekommen waren, wurden denn auch zwischen dem 1. und 4. August zurückgeworfen. Ein Panzerkorps, das nördlich an der Stadt vorbeistoßen sollte, wurde eingekesselt und vernichtet. Damit hatte die Wehrmacht die Frontlinie in diesem Raum etwa 15 Kilometer östlich der Weichsel stabilisiert. Eine Hilfe für die Aufständischen war zumindest auf dem Landweg fürs erste nicht möglich.

Die Entscheidung zum Aufstand

Diese Entwicklungen waren von Warschau aus am 31. Juli, als der Aufstand beschlossen wurde, nicht absehbar. Grundsätzlich gilt: Ein Aufstand in einer besetzten Stadt kurz vor ihrer Befreiung durch anrückende Truppen kann sinnvoll sein und Erfolg haben. Beispiel dafür ist Paris, wo vom 19. August 1944 an Widerstandskämpfer die deutschen Besatzer angriffen. Auch in diesem Fall war die Hauptstadt kein vordringliches Ziel der alliierten Truppen, doch führte der Aufstand zu deren Neuorientierung, und fünf Tage nach seinem Beginn rückten reguläre Einheiten in die bereits weitgehend befreite Stadt ein.

Anders als bei Warschau standen indessen im Fall Paris keine größeren kampffähigen deutschen Truppen vor der Stadt. Den lokalen Leitern der polnischen Heimatarmee war dieser Unterschied nicht bekannt. Sie verfügten kaum über Informationen zur Stärke der deutschen und sowjetischen Divisionen im Umfeld Warschaus. Am Vortag des Aufstands erreichte sie die Meldung, dass ­sowjetische Panzerspitzen den Rand von Praga, dem Warschauer Stadtteil am östlichen Weichselufer, erreicht hätten. Doch falls (was nicht geklärt ist) diese Nachricht überhaupt zutraf, handelte es sich um eine kleine, vorgepreschte Einheit, nicht aber um die Hauptmacht.

Angesichts der Informationslage gab es durchaus Gründe, zu diesem Zeitpunkt einen Aufstand zu beginnen. Der wichtigste war die Aussicht, durch die Besetzung strategischer Punkte die deutsche Seite zu der Einsicht zu zwingen, dass die Verteidigung Warschaus auf einen Mehrfrontenkrieg hinauslaufen würde und also nicht zweckmäßig sei. Damit wären ein Kampf großer regulärer Armeen auf dem Stadtgebiet und die damit einhergehenden Zerstörungen vermieden worden.

Gegen einen Aufstand sprach die eigene Schwäche. Zwar standen knapp 50.000 Kämpfer bereit. Doch war deren Bewaffnung völlig unzureichend. Eine Aufzählung nennt hier 169 Maschinengewehre mit jeweils 100 Patronen, 600 Maschinenpistolen, 2.400 Gewehre, 2.800 Pistolen mit je 30 Patronen, vier Mörser, 21 leichte Panzerabwehrwaffen und 36.000 Granaten. Es schien klar, dass mit solch geringen Mitteln kein längerer Kampf zu führen war. Allenfalls konnten wichtige Bereiche der Stadt für einige Tage gehalten werden, bis reguläre Truppen einrückten. Gegen das Wagnis sprachen auch die absehbaren Folgen eines möglichen Scheiterns. Sie waren vor Ort bereits sichtbar. Im April 1943 hatten Juden im Warschauer Ghetto, die sichere Deportation in Vernichtungslager vor Augen, einen Aufstand unternommen, der von SS-Truppen niedergeschlagen wurde. Was von der Bebauung des Ghettos noch übrig war, wurde danach zerstört. Bereits seitdem war ein Teil der Warschauer Innenstadt ein Ruinengelände.

Es fehlte auf seiten der polnischen Exilregierung nicht an Stimmen, die angesichts dieser Verhältnisse einen Aufstand für sinnlos hielten und darauf setzten, die eigenen Kräfte für spätere Auseinandersetzungen zu bewahren. Zu ihnen zählten Kazimierz Sosnkowski, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, und Wladysław Anders, Kommandeur der auf westalliierter Seite kämpfenden polnischen Einheiten. Im Gegensatz zu den Anordnungen Sosnkowskis, der die Heimatarmee als Untergrundkraft gegen eine befürchtete sowjetische Besatzung erhalten wollte, gaben andere Vertreter aus London am 28. Juli per Funkspruch die Anweisung an die Kräfte vor Ort, sich der Roten Armee zu erkennen zu geben und – je nach Lage vor Ort – in Warschau gegebenenfalls einen Aufstand zu unternehmen.

Dass die Warschauer Führung der Heimatarmee einen Aufstand für erfolgversprechend hielt, ist auch durch die Erfahrungswelt der Entscheider erklärt worden. Als junge Offiziere hätten sie 1918 erlebt, wie angesichts einer deutschen Niederlage binnen kurzer Zeit machtvolle Besatzer zu unterlegenen Verhandlungspartnern wurden und die deutschen Soldaten keine Neigung zeigten, für eine verlorene Sache zu sterben. So hätten sie knapp 26 Jahre später die Aufgabe, die vor ihnen lag, unterschätzt.

Dies lässt sich schwer nachprüfen. Als gesichert kann dagegen gelten, dass der Konflikt zwischen Gegnern eines Aufstands und dessen Betreibern keiner um die Haltung gegenüber der Sowjetunion war. Umstritten war nur die Strategie, eine nichtsozialistische Zukunft Polens sicherzustellen. In einem Lagebericht vom 14. Juli 1944 nannte Tadeusz Komorowski, der Oberbefehlshaber der Heimatarmee vor Ort, als Sinn des Kampfes zwar an erster Stelle, »vor der Welt zu dokumentieren, dass unsere Haltung gegenüber den Deutschen unbeugsam und unser Kampfwille ihnen gegenüber unerschüttert ist«. Doch heißt es kurz danach, Ziel sei es auch, »jenen Teil der Bevölkerung unter unsere Führung zu bekommen, der die Vergeltung an den Deutschen ersehnt, aber nicht zur Heimatarmee gehört, um sie auf den Weg eines Strebens nach Unabhängigkeit zu führen und sie von den sowjet­ischen Einflüssen zu befreien«. Folgerichtig schreibt Komorowski: »Wenn wir den Sowjets auch nur minimale militärische Hilfe leisten, so bereiten wir ihnen doch politische Schwierigkeiten. Die Heimatarmee betont im Streben zur Unabhängigkeit den Willen der Nation. Das zwingt die Sowjets, unseren Willen mit Gewalt zu brechen (…).«

Am 31. Juli 1944 traf die Warschauer Führung die Entscheidung, im Detail unter dem Eindruck unzuverlässiger Informationen, strategisch aber im Rahmen eines umfassenden, gegen zwei Feinde gerichteten Konzepts, am folgenden Nachmittag den Aufstand auszulösen. Die Sowjetunion wurde davon erst um 21 Uhr, 18 Stunden vor Beginn der Aktion, informiert.

Der Verlauf

Die ersten Stunden brachten Erfolge wie Misserfolge. Angesichts der Kürze der Zeit und der schwierigen Weitergabe von Nachrichten unter den Bedingungen der Besatzung funktionierte die Koordination erstaunlich gut, und am Abend des 1. August waren weite Teile der Innenstadt sowie einige Außenbezirke in der Hand der Aufständischen. Jedoch kontrollierte man keine der Weichselbrücken. Auch war nur ein Teil der Angriffe auf Polizeistationen erfolgreich gewesen, und damit bestand weiterhin ein Mangel an Waffen. Die Zahl der bereits am ersten Tag gefallenen Aufständischen lag bei 2.000 bis 2.500 Kämpfern.

Militärisch bestand in den folgenden Tagen, solange die deutsche Seite noch keine Verstärkungen herangeführt hatte, ein Patt. Während der kleinere Teil der Stadt auf der östlichen Seite der Weichsel in deutscher Hand geblieben war, versuchten die Parteien im Westteil, ihre verstreuten Gebiete zu arrondieren und strategisch wichtige Gebäude in die Hand zu bekommen. Dabei gelangen beiden Seiten Vorstöße.

Die weitaus meisten Toten waren indessen polnische Zivilisten. Bereits kurz nach Aufstandsbeginn war von Heinrich Himmler der Befehl ergangen, alle Einwohner der Stadt zu töten. Schnell wurden Einheiten nach Warschau verlegt, die sich zuvor bei der »Bandenbekämpfung«, also beim Krieg gegen Partisanen, durch besondere Brutalität ausgezeichnet hatten und an Massaker an der Zivilbevölkerung gewöhnt waren. Hierzu gehörte die SS-Sturmbrigade Dirlewanger, die überwiegend aus entlassenen Verbrechern bestand. Ebenfalls eingesetzt wurde die 29. Waffen-Grenadier-Division der SS mit dem Beinamen RONA, was für »Russische Volksbefreiungsarmee« stand. Sie setzte sich aus antibolschewistischen Sowjetbürgern zusammen.

Diese und andere Einheiten unter dem Kommando des SS-Gruppenführers Heinz Reinefarth drängten am 5. und 6. August die Heimatarmee im Stadtteil Wola zurück und führten Himmlers Befehl aus. Mindestens 30.000, vielleicht aber bis zu 50.000 Bewohner, die sich keineswegs an dem Aufstand beteiligt hatten, wurden abgeschlachtet. Allein der von Reinefarth beklagte Mangel an Munition begrenzte in diesen Tagen das Morden.

Wenn SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski, der ab dem 5. August die Niederschlagung des Aufstands kommandierte, vom Abend des 6. August an die massenhafte Tötung von Zivilisten schrittweise einschränkte, so nicht aus humanitären Erwägungen. Zum einen hatte sich gezeigt, dass bei Einheiten wie denen Dirlewangers oder der RONA das Massakrieren, Plündern und Vergewaltigen beliebter war als der Kampf und dass damit die Truppendisziplin in Gefahr geriet. Zum anderen führte das brutale Vorgehen dazu, dass die zunächst abwartenden Teile der Bevölkerung auf die Seite der Aufständischen gedrängt wurden: Ein Erfolg der Heimatarmee war nun die einzige ­Chance, zu überleben. Reinefarth freilich schadete all dies nicht. Am 30. September 1944 wurde ihm das Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes verliehen, und nach dem Krieg brachte er es zum Abgeordneten im schleswig-holsteinischen Landtag und Bürgermeister von Westerland.

Um den 5. August war unverkennbar, dass das Kalkül der Heimatarmee gescheitert war. Mit einer zeitnahen Unterstützung durch ihre sowjetischen Gegner war nicht mehr zu rechnen. Und nun stand an, was durch den Aufstand eigentlich hatte vermieden werden sollen: ein langwieriger Straßenkampf in Warschau, der die Stadt schwer beschädigen würde. Je mehr deutsche Soldaten in die Stadt kamen, desto mehr waren die Aufständischen auf die Verteidigung der von ihnen kontrollierten Gebiete beschränkt. Dabei kam ihnen die enge Bebauung der Stadt zugute, die wenige breite Straßenzüge aufwies, dafür eine Vielzahl winkliger Gassen. Die Gebäude standen eng beieinander und waren zum Teil mehrfach unterkellert.

All dies erschwerte den Vorstoß der deutschen Kräfte, die zudem oft genug feststellen mussten, dass gerade eben erst gesicherte Blöcke aus dem Untergrund heraus wieder von Kämpfern der Heimatarmee besetzt worden waren. Zudem bot das Terrain nur wenige Möglichkeiten, die waffentechnische Überlegenheit regulärer Truppen zur Geltung zu bringen. Panzer konnten nur unter großer Gefahr vorstoßen; ihre Besatzungen waren Brandsätzen ausgeliefert. Schwere Artillerie zerschoss zwar die Häuser, und Sturzkampfbomber warfen ihre Sprenglast ab, doch boten auch die Ruinen den Verteidigern Deckung. Die Verteidiger lernten bald, wie sie den »Goliaths«, ferngesteuerten kleinen Fahrzeugen mit Sprengladungen, die damals noch notwendige Kabelverbindung kappten.

Diese Hinweise auf Vorteile des Geländes sollen nicht die militärische Leistung der Heimatarmee schmälern, die statt der wenigen Tage, von denen die Aufständischen anfangs ausgingen, schließlich gut zwei Monate durchhielten. Im gleichen Maße beeindruckt, wie die Sanitätsdienste funktionierten, wie die immer knapperen Lebensmittel verteilt wurden, wie der Informationsaustausch zwischen den von der Heimatarmee kontrollierten Stadtteilen gelang, wie mittels mehrerer Zeitschriften auch unter schwersten Bedingungen ein kulturelles Leben ermöglicht wurde.

Dies konnte nur dank der Unterstützung zumindest eines Teils der Warschauer Bevölkerung gelingen. Meinungsumfragen gab es natürlich nicht, doch berichteten Zeugen von einem Gefühl der Befreiung unmittelbar nach den ersten Schlägen gegen die Besatzer. Die Stimmung schwankte dann je nach Verlauf der Ereignisse. Das hieß, dass sie sich tendenziell verschlechterte. Die Ressourcen der Heimatarmee in Warschau waren begrenzt, und Verluste konnten nur in geringem Maße ersetzt werden. Die deutsche Seite hingegen konnte Verstärkungen herbeiführen und gewann nach und nach die Übermacht. Bis zum 1. September gelang es ihr, den stärksten der von den Aufständischen kontrollierten Bereiche aufzureiben, den Altstadtbezirk. Zwar konnten Teile der Heimatarmee die Altstadt durch die Kanalisation, das wichtigste Verkehrsnetz der Aufständischen, rechtzeitig verlassen. Doch wurden nun deutsche Kräfte frei, und der Druck auf andere Gebiete verstärkte sich.

Die Hoffnung verstärkte sich immer dann, wenn alliierte Hilfsflüge Waffen und Lebensmittel abwarfen. Doch waren die Bedingungen schwierig. Britische Flugzeuge starteten von Italien aus und hatten hohe Verluste, weil ein großer Teil des langen Weges in den kurzen Spätsommernächten im Hellen zurückgelegt werden musste. Sowjetische Flieger warfen vom 14. September an regelmäßig Hilfsgüter recht zielgenau aus geringer Höhe ab; unter anderem drei Millionen Patronen. Ohne Fallschirme zerschellte aber ein Teil der Lasten am Boden. Die Westalliierten übten Druck auf die Sowjetunion aus, US-amerikanische Bomber nach Abwürfen über Warschau auf ihren Flugplätzen landen zu lassen, von wo sie aufgetankt zurückkehren konnten. Dass sich die sowjetische Führung lange Zeit weigerte, dies zuzulassen, gilt als Argument dafür, dass sie auf ein Scheitern des Warschauer Aufstands setzte. Freilich hatte der einzige Flug, der am 18. September zustande kam, nur bedingten Erfolg. Die Hilfspakete wurden aus sicherer Höhe und mit Fallschirmen abgesetzt und trafen heil am Boden ein, nur leider zum geringen Teil in den polnisch kontrollierten Bereichen. Etwa 80 Prozent fiel den Deutschen in die Hände.

Viel wirksamer war es, dass die Rote Armee am 10. September in die Offensive ging. In den folgenden fünf Tagen gelang es ihr, Praga zu befreien und das östliche Weichselufer zu kontrollieren. Voll neuer Hoffnung brach die Heimatarmee am 11. September die bereits eingeleiteten Kapitulationsverhandlungen ab. Tatsächlich erhielten ihre Kämpfer von nun an sowjetische Artillerieunterstützung. Indessen erwies es sich als schwierig, unter deutschem Feuer die Weichsel zu überqueren. Der von den Aufständischen noch beherrschte Innenstadtbereich war von dem Fluss durch einen schmalen, von Deutschen besetzten Streifen getrennt.

Einige hundert Meter weiter südlich gelang es vom 15. September an, zwar unter großen Verlusten, Einheiten der an sowjetischer Seite kämpfenden Ersten Polnischen Armee überzusetzen. Doch waren die eingesetzten Kräfte zu gering. Um die Lage an diesem Ort zu wenden, hätte die sowjetische Führung zugunsten eines mit ihr nicht abgesprochenen Aufstands ihre strategische Planung verändern und die Befreiung anderer Gebiete aufschieben müssen. Dazu war sie nicht bereit. Am 23. September, die Niederlage in Warschau vor Augen, versuchten die Überlebenden, sich wieder nach Osten zu retten. Dies gelang nur wenigen. Nicht besser erging es nördlich vom Stadtzentrum Kämpfern der Heimatarmee und der kommunistischen Volksarmee, die sich an dem Aufstand beteiligt hatten.

In den letzten Septembertagen liquidierten deutsche Einheiten die von Aufständischen in den Vororten Mokotów bis zum 27. und Żoliborz bis zum 29. September gehaltenen Bereiche. Als letzter Bezirk in polnischer Hand blieb der Innenstadtbereich, der einerseits auf Dauer nicht zu halten war, den zu erobern andererseits die deutsche Seite immer noch erhebliche Verluste gekostet hätte. Dies war die Basis für einen Kapitulationsvertrag, der am 2. Oktober in Kraft trat. Nach Lage der Dinge fiel er günstig aus. Die Aufständischen galten nun nicht mehr als Bandenangehörige, sondern als reguläre Soldaten, mit allen Rechten von Kriegsgefangenen. Entsprechend wurden auch die Angehörigen ihrer Hilfsdienste gewertet. Der Warschauer Zivilbevölkerung wurde immerhin das Leben zugesichert. Diejenigen, denen es nicht gelang, sich ins Umland abzusetzen, wurden aber zum Arbeitsdienst ins Reichsgebiet verschleppt.

Ergebnisse

Was am Westufer von Warschau überhaupt noch übrig war, plünderten und zerstörten die Nazis in den folgenden Monaten fast vollständig. Die Ideologie verselbständigte sich: Sprengstoff, der andernorts notwendig gewesen wäre, wurde verwendet, um Gebäude zu vernichten, die Wehrmachtbefehlshaber in der zur Festung erklärten Stadt gerne als taktische Haltepunkte erhalten gesehen hätten. Tatsächlich wurde das Ruinenfeld bei der sowjetischen Offensive am 17. Januar 1945 fast kampflos besetzt.

Exilregierung und Heimatarmee erreichten keines ihrer Ziele. Warschau wurde nicht vor der Zerstörung bewahrt, und die nationalistischen Kräfte konnten nicht stolz darauf verweisen, vor dem Eintreffen der Sowjets die eigene Hauptstadt befreit zu haben. Ein Großteil ihrer Kämpfer kam ums Leben oder kehrte nach der Befreiung aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr in die polnische Heimat zurück. Angesichts des Ausgangs dürften viele Warschauer die Aufständischen verflucht haben. Aufgrund der rücksichtslosen deutschen Kriegführung war auch nach den ersten Augusttagen die Opferzahl hoch; Schätzungen bewegen sich zwischen 150.000 und 225.000 Zivilisten.

Wer aber trägt, nächst den deutschen Tätern, die Verantwortung? Andere Polen dürften sie der Sowjetunion zuschieben. Es ist kaum zu leugnen, dass die Rote Armee nicht alles ihr Mögliche unternahm, die Heimatarmee zu unterstützen. Eine Eroberung Warschaus in den ersten Augusttagen war zwar nicht machbar, sehr wohl aber könnte man sich einen massiven Angriff im September und eine entschlossenere Luftunterstützung vorstellen.

Dagegen lässt sich einwenden, dass die UdSSR durchaus Kräfte zugunsten Warschaus einsetzte. Die Verlustzahlen sind deutlich: Neben 5.300 Soldaten der Ersten Polnischen Armee kamen auch mehr als 7.700 Rotarmisten bei der Unterstützung des Aufstands ums Leben. Auch hätte jede Kräfteverlagerung bedeutet, woanders Menschen im Machtbereich des deutschen Faschismus zu belassen. Wenn aber dieses Argument heute nicht mehr zählt, die Opfer des faschistischen Terrors wieder einem angeblichen Verrat Stalins zugerechnet werden, dann haben die polnischen Nationalisten trotz der militärischen Niederlage auf einem Umweg ihr politisches Ziel doch noch erreicht.

Kai Köhler berichtete an dieser Stelle zuletzt am 15. Juni 2024 von einer Reise nach Russland anlässlich des Jahrestags der Befreiung vom ­Faschismus.

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  • Leserbrief von Stefanie Zimmermann (8. August 2024 um 15:46 Uhr)
    Eine empfehlenswerte Lektüre hierzu ist Wolfgang Schreyer: »Unternehmen Thunderstorm«. Als Roman gestaltet, beschreibt es die Ereignisse sehr genau.

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