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Aus: Ausgabe vom 03.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Völkermord Jesiden

Trauriger Jahrestag

Genozid an den Jesiden in Şengal vor zehn Jahren: Überlebende fordert Befreiung von immer noch Gefangenen
Von Dîlan Karacadağ
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Auf dem Weg nach Rojava: Jesiden fliehen vor dem »Islamischen Staat« (Şengal, 10.8.2014)

Zehn Jahre nach Beginn des Genozids an den Jesiden und der Verschleppung von Tausenden Frauen und Kindern werden laut der Nichtregierungsorganisation Save the Children noch immer 1.300 jesidische Kinder vermisst. Auch nicht zurückgekehrt sind über 2.700 Frauen, die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) verschleppt und versklavt wurden.

Eine, die das Grauen der IS-Gefangenschaft überlebt hat, ist Jihan Alomar. Die Autorin Alomar erzählt von den Grausamkeiten, die sie und ihre Familie während der zehnmonatigen Gefangenschaft miterleben mussten. »Ich bin traumatisiert, da ich in der Gefangenschaft schreckliche Sachen erleben musste. Ich habe gesehen, wie der IS die Frauen vergewaltigt und Menschen ermordet hat. Sie haben meine Mutter und mich auch geschlagen. Ich habe die schlimmste Zeit meines Lebens während der Gefangenschaft erlebt. Seitdem habe ich meinen Vater und meinen Bruder nicht mehr gesehen.«

Die traumatischen Ereignisse haben tiefe Spuren in ihrem Leben hinterlassen. Jihan Alomar leidet unter Albträumen und körperlichen Beschwerden, wenn sie an die Zeit in Gefangenschaft zurückdenkt. Dennoch habe sie die Hoffnung nicht aufgegeben und nicht zugelassen, »dass der IS gewinnt, indem er mich zerstört«. Statt dessen habe sie das Beste aus ihrem Leben gemacht und eine Akzeptanz dafür entwickelt, was ihr passiert ist: »Ich weiß, dass ich keine Schuld daran trage, was uns geschehen ist. Meine Familie und meine Freunde stehen an meiner Seite und unterstützen mich immer«, so die Überlebende.

Um mit den schrecklichen Erinnerungen umzugehen, spricht Jihan Alomar offen über ihre Erfahrungen. Sie hofft, dass durch ihre Arbeit das Leid der Jesiden in der Öffentlichkeit sichtbarer wird. Dadurch möchte sie Unterstützung für die Befreiung der Gefangenen gewinnen – mehrmals im Jahr werden bis heute aus nordostsyrischen Camps wie Al-Hol, in dem viele IS-Frauen und ihre Kinder leben, Jesidinnen befreit und zu ihren Familien zurückgebracht. »Es hilft mir, wenn ich sehe, dass in der Öffentlichkeit über das Leid der Jesiden gesprochen und geschrieben wird. Um mit den Albträumen umgehen zu können, muss ich noch einen Weg finden«, so Jihan Alomar. Sie fordert einen sofortigen und dauerhaften Abschiebestopp für Jesiden aus der BRD und genügend Mittel, damit ein »würdiges Leben in Şengal« möglich ist.

Düzen Tekkal, Autorin und Filmemacherin, die kürzlich aus Kurdistan zurückgekehrt ist, beleuchtet die gegenwärtige Situation der Jesiden und die anhaltenden Diskriminierungen, mit denen sie konfrontiert sind: »Seit dem 3. August 2014 hat sich leider nichts an unserer Situation verbessert«, warnt sie und beschreibt den antijesidischen Rassismus sowie die politischen Hürden, die das tägliche Leben der Jesiden erschweren. Behördliche Schikanen und politische Entscheidungen der irakischen Zentralregierung führten zur Abschottung der Gemeinschaft.

Die Autorin kritisiert, dass Gesetze oft nicht im Sinne der Jesiden angewandt würden und fordert eine stärkere Beteiligung der Jesiden bei Gesetzesentwürfen, denn ohne politisches Mitspracherecht sei die Zukunft der Jesiden in Kurdistan und im Irak weiter bedroht. Besonders besorgniserregend ist ihrer Meinung nach die Entwicklung in Şengal, das mittlerweile »unbewohnbar« geworden sei. Düzen Tekkal betont, dass die Jesiden sich wie Spielbälle der großen Mächte fühlen und die Unsicherheit in der Region – auch durch Angriffe der Türkei – schwer aushaltbar sei. Daraus resultierende Rückzüge von NGOs schmälern die Aussicht auf eine bessere Perspektive weiter.

Der 3. August 2014 markiert den – laut jesidischer Rechnung – 74. Völkermord an dieser Gemeinschaft. Düzen Tekkal erklärt, dass dies zwar nicht der erste Völkermord an den Jesiden gewesen sei, jedoch der erste, der von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen wurde. Die Jesiden hätten sich entschlossen, zu Anwälten ihrer eigenen Sache zu werden und auf die Missstände aufmerksam zu machen. Kulturelle und wirtschaftliche Unabhängigkeit sei bedeutend.

Hintergrund:Kultur der Jesiden

Das Jesidentum ist eine monotheistische, nicht auf einer heiligen Schrift beruhende, synkretistische Religion. Die Mitgliedschaft ergibt sich ausschließlich durch Geburt, wenn beide Elternteile jesidischer Abstammung sind. Jesiden praktizieren Endogamie. Eine Heirat von Jesiden mit Nichtjesiden hat angesichts jesidischer Heiratsregeln den Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge. Die Jesiden betrachten sich teilweise als ethnische Kurden, teilweise als eigenständige Ethnie. Eine Anmerkung zur Schreibweise: Im deutschen Sprachraum ist Jesidin/Jeside gebräuchlich. Viele Organisationen nutzen als Eigenbezeichnung »êzîdisch« oder »ezidisch«.

Es wird davon ausgegangen, dass die Jesiden seit dem 12. Jahrhundert Opfer von mindestens 73 Verfolgungswellen wurden. Am 3. August 2014 fiel der sogenannte Islamische Staat (IS) in der dezidierten Absicht in Şengal ein, die jesidische Kultur auszulöschen. Zehntausenden Jesiden blieb nur die Flucht ins Gebirge. Doch nicht allen gelang sie rechtzeitig. Die Dschihadisten verübten Massenmorde an Männern, verschleppten Frauen und Kinder, um sie zu vergewaltigen, zu versklaven oder als zu Kindersoldaten zu rekrutieren.

Laut Schätzungen fielen über 10.000 Menschen diesen Massakern zum Opfer. Mehr als 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, bis heute werden noch über 2.700 von ihnen vermisst. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Femizid dar. Viele Jesiden haben im Ausland Zuflucht gefunden. Die Jesiden in Deutschland bilden mit geschätzt 200.000 Mitgliedern die mit Abstand größte Diaspora der Jesiden. (dka)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (2. August 2024 um 21:31 Uhr)
    siehe auch den Dokumentarfilm SINJAR NAISSANCE DES FANTÔMES https://www.alexeliebert.fr/sinjar z.Z. nur in franz. Sprache

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