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Aus: Ausgabe vom 03.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Genozid an den Jesiden

»Peschmerga ließen Bevölkerung schutzlos zurück«

Şengal: Einsatzkräfte der KDP ließen Jesiden schutzlos zurück, als der IS einmarschierte. Ein Gespräch mit Berfîn Hêzil
Von Dîlan Karacadağ
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Jesidische Kämpferinnen und Kämpfer stellen sich den Dschihadisten des »Islamischen Staats« entgegen (Mossul, 20.4.2016)

Ihre Dokumentation über den Rückzug der KDP-Peschmerga, den Einsatzkräften der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, aus der Şengal-Region im August 2014, während der IS dort einmarschierte, hat internationales Aufsehen erregt. Was hat Sie dazu bewegt, dieses Ereignis zu dokumentieren?

Meine Kollegen und ich fühlten eine starke Verantwortung, die Realität vor Ort festzuhalten. Die Peschmerga ließen die Zivilbevölkerung schutzlos zurück und zogen sich ohne Widerstand zurück. Es war wichtig, dies zu dokumentieren, da die Stimmen der Betroffenen sonst möglicherweise ungehört geblieben wären. Während die Peschmerga abgezogen sind, habe ich das Mikrophon zu ihnen gehalten und fragte: »Warum lauft ihr weg, warum habt ihr diese Menschen trotz all eurer Waffen nicht beschützt?« Sie antworteten: »Das ist nicht unsere Entscheidung.« Wenn wir nicht gefilmt hätten, wäre das Vorgehen der Peschmerga vielleicht nur durch Berichte bekannt geworden, aber die Aufnahmen konfrontieren sie direkt.

Sie waren vor Ort und erinnern sich an die erschütternden Ereignisse in Şengal. Welche Bilder sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Die Flucht Hunderter Menschen bleibt mir unvergesslich. Insbesondere die tragischen Schicksale von Kleinkindern, die vor Durst starben, sind tief in meiner Erinnerung verankert. Diese Bilder sind schmerzhaft, aber notwendig, um auf das Leiden der Menschen aufmerksam zu machen.

Unmittelbar nach dem Rückzug der KDP-Peschmerga kam aus Rojava eine Reaktion auf die Hilferufe aus Şengal. Wie bewerten Sie diese Reaktion?

Das war bemerkenswert, weil die Menschen in Rojava selbst in Gefahr waren und trotzdem Hilfe leisten wollten. Die Öffnung des sogenannten Korridors des Lebens, der Fluchtroute über die Berge, war entscheidend. Es zeigte die Kraft der Solidarität in Krisenzeiten. Die Gründung der Selbstverteidigungseinheiten YBŞ/YJŞ in Şengal war eine direkte Reaktion auf die Bedrohung durch den IS und ein Zeichen des Widerstands. Die Rolle der Jesiden und Frauen in diesen Einheiten war besonders wichtig.

Inwiefern?

Den Jesiden vor Ort war es fremd, dass Frauen bewaffnet in einer Verteidigungseinheit waren – Kämpferinnen, die sie umarmten und schützten vor den Barbaren, die sie vernichten wollten.

Am 19. Januar dieses Jahres erkannte der Bundestag die Verfolgung der Jesiden einstimmig als Genozid an. Was bedeutet dies für die Betroffenen und die deutsche Verantwortung?

Die Anerkennung ist natürlich wichtig und richtig, aber sie allein reicht nicht aus. Es ist unverständlich, dass gleichzeitig politische Maßnahmen ergriffen werden, die die betroffene Bevölkerungsgruppe in der BRD wieder in Gefahr bringen, indem man sie abschieben will.

Wie sehen Sie die aktuelle Situation für die Rückkehrer in Şengal?

Mehr als 70.000 Menschen sind bereits nach Şengal zurückgekehrt, um in einer zerstörten Region zu leben. Der Wiederaufbau muss jetzt Priorität haben. Die spezielle Rehabilitation der Frauen, die unter dem IS gelitten haben, und die Rekonstruktion von Krankenhäusern, die von der türkischen Regierung bombardiert wurden, sind essentiell.

Einerseits erkennt die Bundesregierung den Genozid an, andererseits diffamiert sie die Kämpfer, die die Menschen vor dem Genozid geschützt haben als »Terroristen« …

Es ist erschreckend, dass Menschen, die gegen den IS gekämpft haben, als Terroristen stigmatisiert werden, während diejenigen, die Verbrechen begangen haben, oft milde behandelt werden. Eine Frau, die Frauen versklavt hat, erhält 1,5 Jahre Haftstrafe und wird nicht mal als Terroristin eingestuft. Frauen, die gegen den IS kämpfen, werden als Terroristinnen eingestuft, wegen angeblicher Nähe zur Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Diese Doppelmoral zeigt eine klar antikurdische Haltung in der deutschen Politik. Ich habe als in Deutschland aufgewachsene deutsche Staatsbürgerin manchmal das Gefühl, dass es eine fundamentale Abneigung gegen Kurden gibt.

Berfîn Hêzil ist Kriegsreporterin und Mitbegründerin des Frauenfernsehsenders Jin TV

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