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Aus: Ausgabe vom 03.08.2024, Seite 6 / Ausland
Nahostkonflikt

Israels »Rache«

Brief aus Jerusalem: Wie Linke zu Hamas-Führern werden
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
Einer der Orte des Grauens: Das Ofer-Gefängnis nahe Ramallah
Omar Assaf vor und nach der israelischen Gefangenschaft

Um 3.30 Uhr morgens am 23. Oktober vergangenen Jahres: Omar Assafs Frau weckt ihren Mann auf. »Die Armee ist vor unserem Haus vorgefahren. Zieh dich an!« Für Assaf nichts Neues. Als linker Aktivist, langjähriger Gewerkschafter an der Universität Birzeit und gewähltes Mitglied im Gemeinderat von Ramallah ist er Verhaftungen gewohnt. Er war mindestens schon zehnmal in israelischer Haft.

Doch am 23. Oktober ist es anders als sonst. Früher klingelte die Armee, und er öffnete die Tür. Dieses Mal sprengte das Armeekommando die Haustür. Sie fesselten ihn, verbanden ihm die Augen und brachten ihn zu einem der wartenden Jeeps: Dort wurde er regelrecht hineingeworfen. Andere Verhaftete lagen schon auf dem Boden. Auch Assafs Sohn wurde aus der darüberliegenden Wohnung geholt, zusammengeschlagen und auf die Straße gebracht. Gefesselt musste er dort knien. Frauen und Kinder wurden in ein Schlafzimmer gesteckt und von alldem isoliert.

Das Armeekommando brachte Assaf zusammen mit den anderen Gefangenen nach Etzion südlich von Hebron, wo er einige Tage unter unsäglichen Bedingungen festgehalten wurde. Dann kam er in das Gefängnis Ofer nordwestlich von Jerusalem, direkt außerhalb des Dorfes Beitunia. Nach zehn Tagen – er hatte eigentlich wie schon früher Administrativhaft erwartet – führte man ihn dem Richter vor. Die Anklage warf ihn erst einmal um: Er sei ein wichtiger Hamas-Führer. Er, ein säkularer linker Aktivist! Der Richter hatte die Anklage auf der Basis von nicht offengelegten Dokumenten angenommen.

Nach einem Monat wurde er erneut dem Richter vorgeführt. Die Anklage habe sich als falsch erwiesen. Assaf atmete auf: Nun würde er endlich entlassen. Aber er hatte nicht mit dem gerechnet, was dann kam: Er sei zwar kein Hamas-Führer, aber – Omar Assaf ist 74 Jahre alt – Führer der palästinensischen »Hirak Al-Schababi«, übersetzt der »Jugendrevolte«. Diese war 2011 gegründet worden, inspiriert von den Revolutionen in mehreren arabischen Ländern.

Im Gefängnis Ofer wurde er zusammen mit zehn weiteren Gefangenen in eine Zelle gesteckt, in der es sechs Betten gab. Zuvor musste er sich bis auf die Unterhose ausziehen und seine Kleidung abgeben. Dafür erhielt er eine Hose und ein T-Shirt. Zwei Monate lang konnte er sie nicht wechseln. Zwar gab es alle drei bis vier Tage die Möglichkeit, zu duschen. Mit einem Minimum an Seife für eine kalte Dusche in den Wintermonaten des palästinensischen Berglandes. Zum Abtrocknen ein halbes Handtuch. Danach blieb nichts anderes übrig, als wieder in die alte Kleidung zu schlüpfen.

In die Zelle gelangte kein Sonnenstrahl. Auch der Sauerstoff wurde immer wieder knapp, weil zu viele Menschen auf zu kleinem Raum zusammengepfercht waren. Im Unterschied zu früher befanden sich Gefangene aller Organisationen von Hamas bis zu der linken Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) in einer Zelle – egal wie alt und egal woher. Ausgang aus der Zelle gab es nicht täglich. Und wenn, dann maximal zehn Minuten Rundgang im Gefängnishof.

Die Haftbedingungen sind durch Polizeiminister Itamar Ben-Gvir enorm verschärft worden: Gefangene haben keinen Zugang zu Radio und Fernsehen. Familienbesuche sind verboten. Von der Außenwelt sind die Gefangenen systematisch abgeriegelt. Dafür mussten sie den Horror aus der nebenan gelegenen Abteilung mithören, der Abteilung 23 für Palästinenser aus Gaza. Sie waren mit Ketten gefesselt, rund um die Uhr. Die Matratzen zum Schlafen wurden ihnen um fünf Uhr morgens weggenommen und erst abends um sieben Uhr wieder zurückgegeben. Omar hörte, wie sie immer wieder zusammengeschlagen wurden, sich auf den Boden werfen und oft bellen mussten wie Hunde. Auch der Arzt Adnan Al-Barsch, Direktor der orthopädischen Abteilung am Schifa-Krankenhaus in Gaza, war unter den Inhaftierten. Er war während der Behandlung von Patienten festgenommen und in das Gefängnis gebracht worden. Am 19. April starb Barsch infolge von Folter.

Im Vergleich dazu hatte Assaf Glück. Sein Rechtsanwalt durfte ihn besuchen und konnte seine Freilassung durchsetzen. Aber auch er musste zuvor Unsägliches durchmachen. Als er einmal zusammengeschlagen wurde, erlitt er eine Kopfverletzung. Ein Arzt kümmerte sich zwar um ihn, doch die klaffende Wunde wurde nicht korrekt behandelt. Innerhalb von kurzer Zeit entzündete sie sich. Immerhin konnte Assaf sich beim zuständigen Richter beschweren. Nach knapp sechs Monaten Haft in Ofer hatte er 29 Kilogramm abgenommen. Ein Bild von ihm direkt nach der Freilassung erschüttert.

Inzwischen gibt es Zahlen, wonach in israelischen Gefängnissen im besetzten Westjordanland seit Oktober mindestens 19 Menschen gestorben sind. Im Vergleich zum Foltergefängnis Sde Teiman, dem israelischen Guantanamo, ist das fast noch harmlos. Dort wurden seitdem 35 Menschen regelrecht ermordet. Die Zahl bestätigte ein UN-Bericht Ende Juli. »In Sde Teiman wurden die Gefangenen in einer Art Käfig festgehalten, über längere Zeit nur mit Windeln bekleidet.« Volker Türk, UN-Kommissar für Menschenrechte, zeigte sich bei der Vorstellung des Berichts erschüttert: »Die Zeugenaussagen, die mein Büro gesammelt hat, weisen auf entsetzliche Taten hin wie Waterboarding und das Hetzen von Hunden auf die Gefangenen. Das stellt eine eklatante Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts dar.«

Inzwischen hat ein israelischer Arzt auf ein extremes Beispiel von Vergewaltigung durch Soldaten in Sde Teiman hingewiesen, bei dem der sexuell Gefolterte fast starb. Obwohl neun Soldaten festgenommen wurden, geht das Foltern ungemindert weiter – unterstützt von großen Teilen der israelischen Gesellschaft.

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit nördlich von Jerusalem im Westjordanland und Autorin mehrerer Standardwerke zum Nahostkonflikt. Dies ist ihr sechster Beitrag in der Reihe »Briefe aus Jerusalem«. Teil eins erschien in jW vom 29./30. Juni, die Folgebriefe wurden in den jW-Ausgaben vom 8., vom 13./14., vom 20./21. und vom 27./28. Juli veröffentlicht

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  • Leserbrief von Richard Jawurek aus Markkleeberg (5. August 2024 um 11:10 Uhr)
    Zu dem schwer erträglichen Grauen der Berichte über die Behandlung
    beschuldigter Palästinenser durch israelische Militärs kam mir eine
    Erinnerung an den sogenannten Libanonkrieg 1982 in dem der damalige
    Chefreporter des Bayrischen Rundfunks, Dagobert Lindlau, der in Beirut
    mit seiner jüdischen Ehefrau zu Fuß unterwegs war, einen israelischen
    Panzer passierte. Beide sahen den darauf sitzenden Soldaten auf einen
    vorbeilaufenden Palästinenser herab spucken und Frau Lindlau empörte
    sich ihm gegenüber, in hebräischer Sprache: "Warum tust du das, er hat
    dir doch nichts getan?" Völlig verdutzt antwortete er: "Es ist doch nur ein
    Araber" Diese schlimme Indoktrinierung, vor allem innerhalb der Armee,
    mit dem Hintergrund des "auserwählten Volkes" läßt kaum Hoffnung auf
    friedliche Perspektiven aufkommen, zumal Stimmen wie Uri Avnery (gest.)
    Moshe Zimmerman, Daniel Barenboim u.a. eine angefeindete Minderheit
    bilden und von westlichen Menschenrechtsapologeten keinerlei Zuspruch
    bekamen/bekommen. Die westlichen doppelten Standards sind global oft
    ein Treiber vieler Auseinandersetzungen und Krisen, die unsere und nächs-
    te Generationen mit all ihren Folgen belasten werden.

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