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Aus: Ausgabe vom 03.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kulturgeschichte

Harte Lektionen

Autonomie als Metagut: Johannes Drerup und Gottfried Schweiger beantworten in ihrem gleichnamigen Essay die Frage »Was ist eine gute Kindheit?«
Von Martin Küpper
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»Die kindliche Autonomie ist natürlich noch keine reife und voll entwickelte Autonomie« (Drerup/Schweiger)

Als ich im Sommer 2021 an einem Badesee saß, fielen mir unter den Gästen ein etwa drei Jahre alter Junge, dessen Mutter und dessen Großmutter auf. Statt zu baden, interessierte sich der Junge für die Bagger, Schaufeln und Eimer der anderen Kinder. Das missfiel der Großmutter, die ihn unter Ermahnungen immer wieder vom Spielzeug wegnahm, um ihn ins knöcheltiefe Wasser zu setzen. Der murrende Junge versuchte sich von seiner Großmutter loszureißen. Sie fing ihn aber jedes Mal wieder ein. Es gehe ihr darum, dass der Junge »eine Lektion lernen« müsse, rechtfertigte sie ihr Verhalten gegenüber der tatenlosen Mutter, die sichtlich litt. Die Szene schien keine Premiere zu sein. Worin die Lektion bestand, blieb jedoch unklar. Die Mutter wurde nicht nur daran gehindert, mit ihrem Kind zu interagieren, sondern auch das unmittelbare Bedürfnis des Jungen wurde ignoriert, und ihm wurde nicht erklärt, warum er gegen seinen Willen ins Wasser musste.

Das rigide und gewalttätige Verhalten der Großmutter stand in krassem Widerspruch zu dem, was wohl nur die wenigsten von uns in Abrede stellen würden: »Jedes Kind verdient eine gute Kindheit, keine Frage.« So beginnt der Klappentext des knapp 100seitigen Büchleins »Was ist eine gute Kindheit?« von Johannes Drerup und Gottfried Schweiger. Was bedeutet eine gute Kindheit? Welche materiellen und ideellen Bedingungen müssen gegeben sein, damit sie überhaupt möglich wird? In fünf kurzen Kapiteln versuchen die Autoren, Antworten zu formulieren.

Die Kindheit ist nicht nur die Lebensphase, die allen anderen vorausgeht und damit alle folgenden entscheidend prägt, sondern auch die, in der man am stärksten von seiner Umwelt abhängig ist. Dabei sei zunächst die gute von einer glücklichen Kindheit zu unterscheiden. Die glückliche Kindheit, die im Alltag mit subjektivem Wohlempfinden gleichgesetzt wird, sei zwar ein wichtiger Teil einer guten, diese umfasse aber mehr. Eine gute Kindheit, so Drerup und Schweiger weiter, zeichne sich einerseits dadurch aus, dass ein Kind ausreichend mit Beziehungs- und Bildungsgütern sowie materiellen Gütern versorgt wird. Andererseits müsse »dem Willen und den Wünschen, den Sorgen und Projekten eines jeden Kindes ausreichend Raum gegeben« werden, was unter die sperrige Kategorie »intrinsische Güter« gefasst wird. Dieses Gütersystem diene sowohl der Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit als auch dem kindlichen Wohlergehen. Entscheidend ist, dass keines der Güterfelder das Fehlen eines anderen ausgleichen kann, sondern alle gleichzeitig ineinandergreifen sollten.

Kinder brauchen altersgerechte Ernährung, Sicherheit und Schutz sowie genügend materielle Gelegenheiten zum Spielen und Lernen. Sie benötigen ferner »von klein auf Liebe, Fürsorge und Zuwendung und vertrauensvolle, hinreichend sichere und verlässliche Bindungen«. Bildung soll ihnen das Wissen und die Fertigkeiten vermitteln, die ihrer Entwicklung zuträglich sind. Und nicht zuletzt soll den Eigenarten kindlichen Erlebens genügend Raum gegeben werden. Gerahmt wird das Konzept von der Idee der »Autonomie als Metagut«. Die Autonomie der Erwachsenen wird von ihnen klassisch liberal als umfassende Fähigkeit zu kritischer Selbstreflexion verstanden. Und entgegen der heute noch auf manchen Spielplätzen und Familienfeiern vertretenen Auffassung, dass Kinder irrational oder unfertige Erwachsene oder Egomanen seien, meinen sie, dass diese ab dem dritten Lebensjahr durchaus fähig seien, in bestimmten Lebensbereichen autonom zu handeln. Dem Gut Autonomie kommt also eine doppelte Orientierungs- und Korrekturfunktion zu. Die Erwachsenen haben die Aufgabe, Autonomie durch die Bereitstellung der Güter zu fördern. Die Kinder sollen unterdessen dazu angehalten werden, autonomes Handeln zu lernen.

Das Ziel der Autoren besteht darin, eine Konzeption zu entwickeln, die »durchaus universalen Geltungsanspruch erhebt«, obwohl sie ihren realen Ausgangspunkt in den bürgerlichen Demokratien der westlichen Hemisphäre hat. Sie versuchen so die Bedingungen eines Kriterienkatalogs nachzuzeichnen, mit dem sich die Mängel in Familien oder staatlichen Institutionen aufzeigen lassen. Immer wieder bricht auch die Realität in die stellenweise zu abstrakt gefassten Gedankengänge ein, wenn sie etwa die grassierende Armut als größtes Hindernis der Persönlichkeitsentwicklung beschreiben. Hier wäre mehr Mut wünschenswert gewesen, statt »mit Zeitdiagnosen über die schlechte Welt und den Verfall der Kindheit« zu sparen, weil diese »nur über eine geringe Halbwertszeit verfügen« würden. Als die Berliner Sozialdemokraten kürzlich das kostenlose Mittagessen an Schulen in Frage stellten, erklärten ihre Vorsitzenden ganz unverhohlen, dass es »keine Denkverbote« geben dürfe. Angesichts solcher Entwicklungen täte die Wissenschaft gut daran, die Waffen der Kritik nicht vor dem politischen Kampf zu neutralisieren. Es ist nämlich erschreckend, dass selbst solch ein weitgefasster, liberaler Kriterienkatalog nicht einmal im Ansatz realisiert ist. Schlimmer noch: Es ist diese liberale Ordnung, die selbst die simpelsten Bedürfnisse massenweise nicht befriedigen kann.

Johannes Drerup und Gottfried Schweiger: Was ist eine gute Kindheit? Reclam-Verlag, Ditzingen 2024, 107 Seiten, 7 Euro

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