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Aus: Ausgabe vom 03.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Freiheit aus der Beschränkung

Zwischen Abstraktion und Illusion: Die Ausstellung »Frans Hals. Meister des Augenblicks« in der Berliner Gemäldegalerie
Von Manfred Hermes
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Vergänglichkeitsallegorisierung hin oder her – Frans Hals: »Junger Mann mit Totenkopf«, Öl auf Leinwand, um 1626

Vom ersten Moment an rempeln einen hier die Zuweisungen und pauschalen Wertbestimmungen an. Die Texttafeln in dieser Ausstellung verweisen immerzu auf das, was »zählt« und »gilt«. Zwar ist es keine Übertreibung, Frans Hals (zirka 1583–1666) als einen der bedeutendsten Porträtisten der europäischen Kunstgeschichte zu bezeichnen, aber die Hyperbolik wirkt schal, wenn Adjektive wie innovativ, unkonventionell, bahnbrechend oder modern folgen, die nur die eine Funktion haben, ohne Umstände zum gerade Gängigen aufzuschließen; eine Kunst, auf die sich die Direktorin der Gemäldegalerie zu verstehen scheint.

Aber gut, dann ist Frans Hals jetzt eben der »Meister des Augenblicks« und »Vorreiter der Moderne«. Zweifellos ist aber, dass er als Porträtmaler tätig war. In einer Großausstellung seiner Werke wird das unweigerlich zu einem Überangebot an Gemälden von schwarz gekleideten Menschen in großen weißen Kragen in mittleren Formaten führen. Auf den ersten Blick wirkt das so gleichförmig und derart zeittypisch, dass das mit dem Bruch von Konventionen oder der Behauptung von Vorreiterschaft ein wenig voreingenommen dasteht.

Sachliche Anlässe

Daher etwas Hintergrund. Nach der Belagerung von Antwerpen durch die spanischen Habsburger verließen Hals’ Eltern die flämische, religiös repressive Stadt und zogen, etwa zur Zeit der Geburt ihres später berühmten Sohnes, ins holländische Haarlem. In nur 150 Kilometern Abstand herrschte nicht nur ein völlig anderes soziales Klima, auch Künstler hatten es hier mit einer spezifischen Situation zu tun. Von Flandern aus hätte Hals womöglich europaweit Aufträge der hohen Aristokratie oder des Klerus akquirieren können, das war wenige Jahre zuvor jedenfalls Peter Paul Rubens’ oder etwas später Anton van Dycks Karriereweg. Das protestantische Bürgertum der Niederlande hatte bei Wandschmuck und Repräsentation außerdem bescheidenere Ansprüche. Das bildete sich auch bei Bildgattungen und Themen ab, christliche Motive oder mythologische Massenszenen wurden durch säkulare und intimere Sujets an den Rand gedrängt, im Durchschnitt verkleinerten sich auch die Bildformate.

Ein bürgerlicher Hang zur Sachlichkeit bevorzugte nun Genres wie Kammerbild, Landschaft oder Seestück, aber auch Porträts wurden noch stark nachgefragt. Die wichtigsten Verschiebungen fanden aber im Stilleben statt (das allerdings auch in Flandern). Hier boten sich unzählige und im Wortsinn sachliche Anlässe, Malerei freier auszuagieren oder mit Problemen von Licht und Volumen zu experimentieren. Die malerische Wiedergabe des Glanzes von Metallen, Brokaten oder von farbigem Obst, der Farbe von Blüten, der pudrigen Mattheit von Backwaren oder von Schimmer, Spiegelungen, Lichtbrechungen in Vogelfedern, Gläsern oder Flüssigkeiten, das alles konnte – Vergänglichkeitsallegorisierungen hin oder her – jetzt auch zum Selbstzweck werden. Daher hat sich eher im Stilleben das »Bahnbrechende« ereignet, nur muss man sich diese Bahn dann wie ein Wurmloch von einem Goldenen Zeitalter in ein anderes vorstellen, zu Manet, Matisse, Cézanne und dem Kubismus.

Arbeitsteilung

Nun hat Frans Hals aber Porträts und keine »stillstaende dingen« gemalt, und das natürlich im wesentlichen für die Oberschicht, sowie auch diese selbst. Das Machtgefühl und die Wohlhabenheit dieser Händler und Besitzer zeigt sich in jedem dieser Bilder, da der Maler für charakterliche Eigenschaften ein gutes Auge hatte und eine fähige Hand. Ökonomisch und präzise begriff er arrogante und abgeklärte, offene und verkniffene, skeptische oder fröhliche Gesichter.

Zu den in diesem bürgerlichen Kontext möglichen Großaufträgen gehörten Gruppenbilder, da pro Kopf bezahlt. Auch Beispiele für solche figurenreichen und gegebenenfalls meterlangen Tableaus wurden nach Berlin geholt. Sie zeigen Stützen der Gesellschaft in meist dunklen Interieurs, Mitglieder von Gilden, Großfamilien oder Bürgerwehren, deren Darstellung viel Einfallsreichtum bei der Variation von Posen, beim Drehen von Köpfen, Augen und Körperteilen abverlangte. Oft wurden da bei Bedarf später von anderen Künstlern Figuren dazugemalt. Im Gruppenbild einer Schützengilde von 1644 war es die gesamte rechte Hälfte. Ein freiwilligeres Komposit ist »Junge Frau mit Obst und Gemüse« (1630). Das Bild zeigt auf eine damals übliche Form der Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Ateliers; der eine (Claes van Heussen) hat hier den Tisch mit den leckeren Sachen gemalt, der andere (Hals) die Verkäuferin dahinter.

Gut verkäufliches Genre

Ein ideologisches Schwergewicht dieser Ausstellung liegt auch auf dem, was manchmal »Liebe zum Volk« genannt wird. Hals hat ja nicht nur die Reichen und Mächtigen, sondern gelegentlich auch die Unterhaltungskünstler, bösen Mädchen und Feierleute der Stadt gemalt. Kann schon sein, dass ihn das zu einem frühen bildnerischen Verkünder egalitärer Vorstellungen macht, wie es hier unterstellt wird. Denkbar ist aber auch, dass sich darin etwas vom katholischen Hang zum Derben und Allzumenschlichen erhalten hatte. Schließlich waren sogenannte Tronien, Porträts schräger Typen mit prägnanter Mimik, einfach ein gut verkäufliches Genre, mit dem ein Maler dem Honoratiorenschwarz mit kräftigeren Rottönen und lebhafteren Ausdruckswerten entkommen konnte.

Frans Hals war künstlerisch weniger vielseitig als Rubens, Rembrandt oder selbst Vermeer. Aber er hat dann eben aus der Beschränkung auf das Porträt, das heißt aus Köpfen, Körpern und Gesichtern, der Darstellung von Haut, Haaren und Textilien Anlässe für malerische Freiheit gefunden. Aus der Nähe gesehen fasern die Pinselstriche auf und die Areale werden flockig, fedrig oder kristallin. Hier wird das Verhältnis von Abstraktion und Illusion wechselseitig durchlässig und erscheint als beliebig gradierbar. Das ist ein Merkmal aller Hals-Bilder. Es zeigt sich besonders bei den Geometrien der weißen Spitze der breiten Kragen, dem auffälligsten Luxusaccessoire in der Mode ab 1620: Die Malgeste selbst ist bei Hals ein zentrales Objekt.

Das ist keine welterschütternde Erkenntnis, das konnte man auch vorher schon wissen (da die Gemäldegalerie neun seiner Bilder im Bestand hat). Historisch gesehen brauchte das trotzdem seine Zeit. In Frans Hals’ letzten Lebensjahren schwächte sich die Nachfrage für seine temperamentvolle und unprätentiöse Malerei deutlich ab, danach fiel das Interesse in völligen Tiefschlaf. Erst in den späten 1860er Jahren brandete via Brüssel/Paris wieder Aufmerksamkeit auf. Gustave Courbets Kopie (1869) eines Hals-Bildes ist ein Indiz für diese Wiederentdeckung, und es ist das Gegenteil der eingangs verspotteten Debil-Didaktik, dass dieses Bild hier mitausgestellt ist.

»Frans Hals. Meister des Augenblicks«, Gemäldegalerie Berlin, bis 3.11.2024

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