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Aus: Ausgabe vom 03.08.2024, Seite 12 / Thema
Kunst in der DDR

Unverwechselbar eigenständig

Bildende Kunst der DDR als Teil der deutschen Kunstgeschichte (Teil I): Selbständig interpretierter Realismus.
Von Peter Michel
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Das kulturelle Erbe der DDR nicht unbedacht preisgeben. Ronald Paris’ »Unser die Welt – trotz alledem« (1975/76) 2017 im Museum Barberini in Potsdam

Der Kunstkritiker, Journalist, Kurator und Präsident der deutschen Sektion der AICA¹, Thomas Wulffen, sprach am 29. Mai 1990 mit dem damaligen Generaldirektor des Staatlichen Kunsthandels der DDR, Rüdiger Küttner, in Berlin. In diesem Gespräch fiel die Bemerkung, in der DDR sei deutscher gemalt worden als in der Altbundesrepublik.² Was die Beziehungen zu kunstgeschichtlichen Traditionen betrifft, war diese Erkenntnis schon damals richtig.

16 Jahre später zeigte die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen eine Ausstellung mit dem Titel »Deutsche Bilder aus der Sammlung Ludwig«, wo Bilder aus Ost und West gleichberechtigt gezeigt wurden. Im Zentrum dieser Ausstellung konnte man diese Bilder mit Meisterwerken des Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit und mittelalterlicher Kunst vergleichen. So wurde auch 2006 erlebbar, dass es für die so unterschiedlichen Werke aus den alten und neuen Bundesländern gemeinsame Wurzeln gibt. Im Katalog schrieben die Veranstalter: »Natürlich sind in Wirklichkeit die wahlverwandtschaftlichen Beziehungen komplexer und auch international, aber man spürt, dass sie in historischen Zeitachsen verankert sind – und dass im Miteinander von historischer und Gegenwartskunst diese Bilder die Angestrengtheit bloßer Ost-West-Gegenüberstellung verlieren. (…) Wir haben diese Ausstellung gemacht, um die Bilder endlich einmal gleichermaßen würdevoll miteinander zu zeigen.«

Kunst als Kunst ernst nehmen

Geschrieben war das zu einer Zeit, der »Bilderstreit« noch nicht beendet war und als mancher Hardliner etlichen Künstlern nicht einen Schatten ihrer Würde lassen wollte. Trotz gegenteiliger Beteuerungen stößt man auch heute noch auf Ausgrenzungen und Unterstellungen. Doch die Zahl derer, die Kunst als Kunst ernst nehmen, ist erfreulich gewachsen. Große Museen bemühen sich seit langem, Kunst aus der DDR zum festen Bestandteil ihrer Sammlungen von Kunst des 20. Jahrhunderts zu machen, so dass die Besucher selbst nachprüfen können, wo »deutscher« gemalt wurde. Während noch 2001 eine lange geplante Ausstellung des Werkes von Willi Sitte in Nürnberg auf erniedrigende Weise zensiert wurde, so dass sie vom Künstler abgesagt werden musste, kam schließlich 2021 in Halle eine bedeutend bessere Retrospektive zustande. Sie war opulent und tief beeindruckend, konnte jedoch in ihrem Katalog Spekulationen und Vorurteile zur Biographie noch immer nicht ganz vermeiden. Die Kunsthalle Rostock praktiziert – wie auch andere Museen – seit langem einen normalen Umgang mit Kunst aus der DDR und griff unter anderem die Idee der Ostseebiennalen wieder auf. Vor allem aber waren und sind es Museen und Sammlungen in den alten Bundesländern, die schon vor dem deutsch-deutschen Kulturabkommen und vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten den geistigen und handwerklichen Wert von Kunst aus der DDR erkannten und sie in Beziehung zu dem setzten, was im Westen entstand.

Viel Faktenwissen ist in den Folgejahren der »Wende« verschüttet worden; man staunt manchmal über so viel Unkenntnis. Doch vor allem die Generation der Jüngeren, der jetzt Studierenden, geht weit unbefangener, neugierig, ohne ideologische Scheuklappen mit dem um, was die DDR an Kunstwerken hinterlassen hat. Es gibt Forschungsprojekte, die sich mit einzelnen Künstlern, mit Kunst von Frauen, mit dem Verhältnis von Architektur und bildender Kunst, mit internationalen Beziehungen und anderen Teilaspekten beschäftigen und dabei »Neues« zutage fördern, das für Zeitzeugen selbstverständlich war. Und es gibt die Erfahrung, dass man diese Zeitzeugen befragen muss, solange sie noch leben.³ Selbst dem vielgeschmähten »sozialistischen Realismus« – etwa dem Wandbild von Gerhard Bondzin am Dresdener Kulturpalast – treten junge Leute unvoreingenommener gegenüber und verstehen auch diese Denk- und Malweise als ein Stück Kunstgeschichte.

»Der Kunstmarkt regelt das schon«, war im vergangenen Herbst ein Artikel in der Berliner Zeitung überschrieben.⁴ Die Autorin wandte sich vehement dagegen, Kunst aus der DDR als minderwertig zu bezeichnen und schrieb: »Nach 33 Jahren deutscher Einheit gehen die Preise für DDR-Kunst durch die Decke, die im Bilderstreit als ›ideologisch kontaminiert‹ diffamiert wurde.« Anlass für diese Feststellung war eine Versteigerung von Kunst aus der DDR im Kunstauktionshaus Leipzig. Diese Kunst ist nun vollständig in kapitalistischen Verhältnissen angekommen. Aus gesellschaftlichem Gebrauchtwerden ist Vermarktung geworden. Was viel Geld bringt, muss – nach aktuell verbreitetem Verständnis – etwas wert sein. Nicht geistiger und ästhetischer Anspruch dominieren, Kunst wird vielmehr zur Wertanlage. Obwohl das dem ursprünglichen Anliegen des DDR-Alltags widerspricht, ist das nun doch eine Rolle, die diese Kunst heute zu spielen hat. Ihre vielfältigen Funktionen werden so auf eine zusammengeschmolzen. Wer Geld hat, kann sich Kunst leisten, wer nicht, wird ausgeschlossen – mit allen sozialen Konsequenzen.

Einheit der Realisten

Nun geht es darum, in diesem kapitalgesteuerten System dafür zu sorgen, dass nicht alles vom Kunstmarkt geregelt wird und dass die Polyfunktionalität der Werke auch in der Gegenwart erkennbar bleibt. Und es gilt, die Einsicht zu bewahren, dass künstlerische Freiheit nicht Maßstablosigkeit bedeutet.

Schon seit den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurde immer deutlicher, wie eng Realisten aus beiden deutschen Staaten in ihren Intentionen, ihrem Blick auf die Wirklichkeit und in ihren künstlerischen Mitteln verbunden waren. Ihre weltanschaulichen Positionen waren unterschiedlich, doch sie einte in einer Welt voller Widersprüche das Streben nach einem künstlerischen Realismus, der einem humanistischen Menschenbild und dem Antifaschismus verpflichtet war und der sich sowohl gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse und Berufsverbote in der Alt-BRD als auch gegen eine Schmalspurkunstpolitik wandte, wie sie in der DDR zeitweise betrieben wurde. So entstanden für Künstler in beiden deutschen Staaten nützliche Arbeitsbeziehungen, die man aus der Sicht von heute als Beginn einer Einheit engagierter Realisten bezeichnen kann.

Zu den bekanntesten Realisten in der alten Bundesrepublik gehörten die Maler und Graphiker Gertrude Degenhardt, Hans Platschek, Carlo Schellemann, Johannes Grützke, HAP Grieshaber, Monika Sieveking, das Ehepaar Sendler, Sarah Haffner und Michael Mathias Prechtl, der Zeichner Horst Janssen, der Maler und Karikaturist Guido Zingerl, die Bildhauer Richard Heß, Jürgen Weber, Clemens Strugalla, Christian Höpfner, Waldemar Otto und viele andere. Sie mussten sich gegen die Dominanz des offiziellen Kunstbetriebes in der BRD durchsetzen. Das ist für die noch Lebenden heute noch so und wird so lange so bleiben, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ändern. Ein Teil von ihnen schloss sich der Münchener Künstlergruppe »tendenzen« an. Schon 1975 erschien, vermittelt durch Willi Sitte, Jürgen Webers Lehrbuch »Gestalt, Bewegung, Farbe: Kunst und anschauliches Denken« als Lizenzausgabe im Henschelverlag Berlin und wurde für die Gestaltungslehre an den Kunsthochschulen der DDR genutzt. Seine streitbare Publikation »Narrenschiff. Kunst ohne Kompass« von 1994 beschrieb Kunstverhältnisse, mit denen sich nun Künstler in ganz Deutschland auseinandersetzen müssen.

Die meisten bildenden Künstler in der DDR begriffen Realismus nicht als »verordnet«, sondern als ureigenes Anliegen. Es gab nur wenige, die ihn zunächst in den engen Grenzen des sozialistischen Realismus stalinscher Prägung praktizierten und damit äußerlich Plakatives hervorbrachten. Die meisten suchten ihre eigenen Wege und schufen so einen Reichtum realistischer Wirklichkeitssichten und Ausdrucksmöglichkeiten. Dabei bezogen sie sich sowohl auf die deutsche und internationale Kunstgeschichte bis zur Klassischen Moderne und zur proletarisch-revolutionären Kunst als auch auf andere Medien. So war es nur natürlich, dass es zwischen Realisten aus beiden deutschen Staaten einen regen Austausch gab, der sich vor allem in Ausstellungen manifestierte. Künstler aus der DDR, die aus den unterschiedlichsten Gründen in den Westen gingen, fanden dort oft nicht die Freiheit, die sie suchten, oder sie trafen auf ein Konkurrenzdenken unter Künstlern, das es in der DDR kaum gab.

Grenzüberschreitende multimediale Kunsterscheinungen – wie Aktionskunst oder Environments – spielten in der DDR eine untergeordnete Rolle. Oft waren sie ein Nachvollzug vorangegangener Entwicklungen im Westen. Dennoch gab es auch hier Versuche, Scharlatanerie, Mystifikationen der Realität und übersteigerten Subjektivismus zu vermeiden und mit solchen Aussageweisen die Realität zu befragen. Der Dresdener Maler Dieter Bock schuf im Berliner Dom eine Installation zur faschistischen Pogromnacht 1938. Hubertus Giebe vereinte Malerei und Fotografie in einer Gestaltung zum Spanischen Krieg in den Jahren 1936 bis 1939. Horst Sakulowski versteinerte Militärtechnik und forderte damit zur Abrüstung auf. Junge Dresdener Künstler arbeiteten an Objekten und Aktionen gegen die Verschmutzung der Umwelt. Der Beitrag solcher Kunstformen für die deutsche Kunstgeschichtsschreibung ist, so anregend sie für die Entwicklung der Künste in der DDR waren, gering.

Heute sind – abgesehen von Rückfällen⁵ – die aufgeregten Diskussionen der »Nachwendezeit« einem sachlicheren Umgang gewichen. Wenn man die Frage stellt, was bildende Künstler der DDR in die gesamtdeutsche Kunstentwicklung eingebracht haben, ist es gut, sich an die Gedanken zu erinnern, die der Kunsthistoriker Peter H. Feist schon 1990 äußerte. In einem Beitrag für die Zeitschrift Bildende Kunst vermittelten seine systematisierenden Überlegungen bereits damals Wichtiges für eine gesamtdeutsche Kunstgeschichtsschreibung.⁶ Sie griffen die im Einigungsvertrag formulierte, aber nicht realisierte Forderung auf, die kulturelle Substanz der neuen Bundesländer dürfe keinen Schaden nehmen. Er warnte eindringlich davor, das kulturelle Erbe der DDR unbedacht preiszugeben. Es zeige sich, dass »eine ganze Menge von Kunst aus der DDR zumindest einigen der international (oder in der BRD) als gültig gehandhabten Kriterien und Messlatten standhielt«. Zugleich sei die Frage nach bewahrenswert Eigenständigem wichtig, das sich gegen die nivellierende Flut globaler Einheitsmoden herausgebildet hatte.

Dieses Eigenständige war es wohl gerade, das Kunst aus diesem kleinen Staat im Ausland interessant machte. Feist stellte auch die Frage, wie lange Schaffensweisen von in der DDR wirkenden Künstlern erhalten bleiben, wenn die Kunstverhältnisse der DDR nicht mehr existieren. Solange sie lebten, haben Künstler wie Bernhard Heisig, Gudrun Brüne, Ronald Paris, Wolfgang Mattheuer, Heidrun Hegewald, Jo Jastram, Karl-Georg Hirsch, Arno Rink, Emerita Pansowová und viele, viele andere ihre Denk- und Schaffensweisen nach der »Wende« nicht verändert. Sie gehören und gehörten zu den Starken, deren Selbstbewusstsein nicht getrübt wurde, die sich nicht anpassten in der Annahme, dass sie im Kunstmarkt nun anders wahrgenommen werden müssten. Und dieses Erbe wurde von einigen der Jüngeren, die zum Teil bei ihnen studiert hatten, aufgegriffen und fortgesetzt. So mancher Realist konvertierte zum Abstraktionismus; doch solche Erscheinungen waren selten. Wenn abstrakte Form- und Farbexperimente notwendig waren, um den eigenen Realismus zu bereichern, wurden sie schon in der DDR praktiziert. »Verordneten« Abstraktionismus – wie im Westen – gab es nicht.

Wert und Herausforderung

Zu den Spezifika der Kunst aus der DDR zählte Feist ein »ausgeprägtes, feines Empfinden für Soziales, für alle Konsequenzen aus der Tatsache, dass Menschen nicht anders denn als soziale Wesen existieren«. Deshalb habe sich die Kunst nicht vom Außerkünstlerischen abgegrenzt, sondern wollte eingreifen und wirken; dazu war es notwendig, erlebt und verstanden zu werden. Für viele Künstler war aus diesem Grund das dialogische Prinzip⁷ wichtig. Sie stellten sich nicht über den Betrachter, um ihn zu belehren, sondern suchten mit bildkünstlerischen Mitteln – mit Metaphern, mit eigenwilligen Bezügen zur antiken oder christlichen Mythologie, mit collagehaften Kombinationen bis hin zu Simultanbildern usw. – das Gespräch mit ihren Rezipienten. Sie forderten damit auf, eigenes Wissen und eigene Erfahrungen in das Kunsterlebnis einzubringen. Wer die Besucherreaktionen in den großen Dresdener Kunstausstellungen vor allem in den letzten Jahren der DDR erlebt hat, wird das bestätigen. In den Künsten der DDR wurden Probleme, oft in verschlüsselter Form, behandelt, die in den offiziellen Medien kaum oder nicht vorkamen. Wer sie entschlüsseln konnte, spürte die Sorge um den Erhalt der Ideale, die Kritik an Ungelöstem und die Anregung, sich einzumischen. So half die Kunst, »die Realität in ihrer Widersprüchlichkeit tiefer eindringend zu erfassen« und stärkte die Fähigkeit zu eingreifendem Handeln. Sie verstand sich zugleich als »Teil einer internationalen ›linken‹ Kultur«, der es darum ging, an einer »Alternative zu Kapitalherrschaft und Imperialismus« weiterzuarbeiten. Die Kunstverhältnisse der DDR, so schrieb Feist weiter, hätten dazu beigetragen, ein Geschichtsbewusstsein und ein Zukunftsbild zu fördern, »in dem Antifaschismus, internationalistische Solidarität, vor allem mit der ›Dritten Welt‹, Friedenserhaltung und – freilich sehr spät – die Aufmerksamkeit für Ökologie als hohe Werte galten«.

Natürlich muss man fragen, ob diese Werte auch heute noch die Chance haben, in einer völlig veränderten gesellschaftlichen Realität zu wirken. Wer Augen hat zu sehen, wer es nicht verlernt hat, sich mit Sensibilität und Intellekt überkommene Kunstwerke aus der DDR zu erschließen, wird die große Kluft spüren zu den Verhältnissen der Gegenwart mit ihren Kriegen, ihrem Rüstungswahn, ihren Zerstörungen, ihrem wiedererstarkten Faschismus, ihrer Menschenverachtung, ihren sozialen Verwerfungen, ihrem Bildungsabbau, ihrer Kapitalgier und ihren Machtkämpfen. In den bildhaft gewordenen Werten der Kunst aus der DDR liegt ein Vermächtnis, das Alternativen zu diesem historischen Rückfall bewusst macht und in die Zukunft wirken kann.

Das Festhalten an figurativen künstlerischen Herangehensweisen in all ihrer Vielfalt bildete zeitweise eine Ermutigung für Künstler in der westlichen Welt, »der allgegenwärtigen Dominanz nichtrealistischer Kunstkonzepte standzuhalten«. Feist wies damals auch darauf hin, dass es auf dem Gebiet des tief und differenziert in Physiognomie und Psyche eindringenden Porträts, das einige Theoretiker schon endgültig an die Fotografie abgetreten hatten, zu international bemerkenswerten Leistungen gekommen sei. Dazu fallen jenen, die als Kunstinteressierte in der DDR gelebt haben, zum Beispiel die Dirigentenporträts von Bernhard Heisig, die Hanns-Eisler-Porträts von Ronald Paris, das Rosa-Luxemburg-Porträt Heidrun Hegewalds oder Willi Sittes Porträts seiner Eltern ein.

Ein wichtiger Gedanke Feists betrifft das Verhältnis zu bestimmten Perioden sowjetischer Kunst: Die Kunst in der DDR habe sich stilistisch fast immer entschiedener, als es zeitweise in anderen sozialistischen Ländern geschah, gegen die Übernahme des »Schdanow-Stils auf Repin-Basis« und Entsprechendes in der Plastik gesperrt. Es sei ihr engagierter, etwas bewirken wollender, geschichtsbewusster Realismus, den die Kunst der DDR als Wert und Herausforderung in die gesamtdeutsche und gesamteuropäische Kunst einzubringen habe.

Seit der Veröffentlichung dieser Gedanken sind 34 Jahre vergangen. Was nach der »Wende« folgte, kann man nur als beschämend bezeichnen: Verdrängung, Vandalismus, Ausgrenzung, Ignoranz, Borniertheit, Unverstand, Kolonialistenwillkür … Alles das ist dokumentiert. Vieles kann nicht verziehen werden, wie der Abriss des Palastes der Republik oder die Zerstörung der Wandbilder Walter Womackas beim »Rückbau« des Außenministeriums der DDR in Berlin. Doch je weiter die Kunst aus der DDR in die Geschichte zurücksinkt, um so vorurteilsfreier wird mit ihr umgegangen. Sie wird als Teil der deutschen Kunstgeschichte immer klarer erkennbar.

Dialektischer Realismus

Die offizielle Kulturpolitik der DDR hielt bis kurz vor ihrem Ende am Begriff »sozialistischer Realismus« fest, verstanden als unverrückbare Festmarke im Kalten Krieg. Doch das widersprach den inneren Entwicklungen. Feist war einer der ersten, die aus der Analyse des tatsächlichen Verlaufs der Kunstprozesse ihre theoretischen Schlussfolgerungen zogen. Er schlug bereits in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre vor, mehrere Typen realistischer Gestaltung zu benennen: »Erstens den Gestaltungstyp des unmittelbaren Realismus, dessen Spannweite von der impressiven Darstellung bis zur veristischen reicht. Zweitens den Typ des expressiven Realismus, der mit verschiedenen Graden der Formintensivierung, auch dem Verfahren des Archaismus, operiert. Drittens den Typ des konstruktivistischen Realismus. (…) Viertens den Gestaltungstyp eines metaphorischen oder imaginativen Realismus, in dem auch ausgesprochen phantastische Züge auftreten können.« Er ließ außerdem die Möglichkeit offen, anzuerkennen, »dass bestimmte (…) Aussagen (…) auch mit (den in angewandter und dekorativer Kunst bereits eingeführten Assoziationswirkungen) ­abstrakter Gestaltung zu erzielen sind.«⁸ Natürlich wusste Feist, dass von den meisten Künstlern theoretisches Schubladendenken nicht akzeptiert wurde. Doch damit war eine Tür geöffnet, um die tatsächliche Vielfalt und Weite der in der DDR entstehenden Kunst auch kulturpolitisch anzuerkennen, denn es gab immer wieder Rückfälle in dogmatische Denkweisen.

Vereinzelt traten bereits damals Versuche auf, den Begriff »dialektischer Realismus« einzuführen. Sie wurden von kulturpolitisch Verantwortlichen mit der Begründung hart zurückgewiesen, dieser Terminus leiste der Entpolitisierung Vorschub. Mit der Abkehr von politisch verantwortlichem künstlerischem Handeln hatte das jedoch nichts zu tun, denn Dialektik bedeutet Denken in Widersprüchen. Im Gesetz von Einheit und Kampf der Gegensätze hatte Marx eine Triebkraft der Geschichte erkannt. Viele Künstler hatten das besser verstanden als mancher Sektierer, der nichtantagonistische Widersprüche zu vermeiden trachtete. Der Kunstkritiker der KPD-Zeitung Rote Fahne, Alfred Durus, hatte bereits in den Endzwanziger- und beginnenden Dreißigerjahren von dialektischem Realismus gesprochen. Es ging also auch um die Fortsetzung einer Traditionslinie in der Kunstwissenschaft. Ab 1990 sprachen Feist und andere Kunstwissenschaftler nun ganz selbstverständlich von dialektischem Realismus. Der lang erkämpfte Gewinn an künstlerischem Selbstbewusstsein ist ein Wert, den Künstler der DDR in die gesamtdeutsche Kunstentwicklung einbrachten. Heute wächst die Tendenz, die in der Stalin-Ära und danach in deren Sinn entstandenen Werke sozialistisch-realistisch zu nennen, also den Begriff als Bezeichnung für idealtypische Charakteristika einer ganz bestimmten historischen Periode zu benutzen.

Anmerkungen

1 AICA – Association Internationale des Critiques d’Art, Internationale Vereinigung der Kunstkritiker, Nichtregierungsorganisation der UNESCO

2 Kunstforum International, Band 109

3 Im Januar 2024 strahlte der französische Sender Arte z.B. einen Beitrag junger Redakteure über den 97jährigen Maler und Graphiker Wolfram Schubert aus.

4 Ingeborg Ruthe: Der Kunstmarkt regelt das schon. Berliner Zeitung, 30.9./1.10. 2023, S. 11

5 In Dresden wird versucht, das Andenken an Lea Grundig auf unlautere Art zu beschädigen; vgl. junge Welt vom 19. Februar 2024.

6 Peter H. Feist: DDR-Kunst – was bleibt? Prämissen für eine neue Kunstgeschichtsschreibung. Bildende Kunst, Heft 7, 1990, S. 55–57. Alle folgenden Zitate in diesem Abschnitt entstammen diesem Beitrag.

7 Dieser Begriff wurde von Heidrun Hegewald eingeführt und von Peter H. Feist und anderen Kunstwissenschaftlern aufgegriffen.

8 Peter H. Feist: Aktuelle Tendenzen in der sozialistisch-realistischen Kunst der DDR. Bildende Kunst, Hefte 7 und 8, 1976

Peter Michel schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. Juni 2024 über die russische Malerin Tatjana Nasarenko.

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