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Aus: Ausgabe vom 07.08.2024, Seite 2 / Inland
Kapitalismus im Gesundheitswesen

»Das Problem besteht seit den 1960ern«

Kinderarztpraxis wegen Behandlung nur auf Deutsch in Schlagzeilen. Verband fordert strukturelle Reformen. Ein Gespräch mit Michael Janßen
Interview: Gitta Düperthal
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Sorgte für Aufregung: Das hier abgebildete Schild soll mittlerweile nicht mehr in der Praxis stehen (Kirchheim unter Teck, 29.7.2024)

Eine Kinderarztpraxis in Baden-Württemberg hat vorübergehend ein Schild am Eingang angebracht, auf dem es heißt: »Wir sprechen hier in der Praxis ausschließlich Deutsch! Sollte eine Kommunikation aufgrund fehlender deutscher Sprachkenntnisse nicht möglich sein und auch kein Dolmetscher persönlich anwesend sein, müssen wir eine Behandlung – außer in Notfällen – zukünftig ablehnen.« Was steckt dahinter?

Ich möchte den Diskurs nicht darauf verengen, ob es sich hierbei um eine rassistische Praxis handelt. Vermutlich wollte man nicht etwa Gruppen aus der Behandlung ausschließen, sondern handelte aus einer Notsituation heraus. Dahinter steht ein grundlegendes Problem im ambulanten Gesundheitsversorgungssystem. Primär versorgende Kinderarzt- und allgemeinmedizinische Praxen haben viele Kontakte, für die es im Grunde keinen Arzt benötigt. Für aufwendige Fälle wird die Zeit dann knapp. Zum Beispiel für die Behandlung einfacher Infekte, für Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen bedürfte es der wertvollen Ressource eines Facharztes gar nicht: Das könnten Pflegekräfte übernehmen. Aus internationalen Vergleichen ist das bekannt, etwa aus Skandinavien.

Die Problemlösung Patienten zu überantworten, ist aber unangemessen, oder?

In der Tat, besonders im Fall einer vulnerablen Gruppe von Arbeitsmi­granten oder Geflüchteten, die sowieso schwerer Zugang zu Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen haben. Das Problem: Arztpraxen sind darauf angewiesen, möglichst viele Patientinnen und Patienten zu haben, um betriebswirtschaftlich zu handeln. Solche, die viel Zeit in Anspruch nehmen, sind nach der Logik kontraproduktiv. Dieses Kleinunternehmertum entspricht insgesamt nicht den Bedarfen, schon gar nicht denen dieser hochvulnerablen Gruppe. Die Perspektive muss sein, die Bedarfsgerechtigkeit in den Vordergrund zu stellen: etwa mit kommunalen medizinischen Versorgungszentren, in denen mehrere ambulant tätige Ärztinnen und Ärzte kooperativ unter einem Dach zusammenarbeiten. Mit profitorientierten Kleinstpraxen kann gute Gesundheitsversorgung nicht funktionieren. Im Vordergrund muss die Frage stehen: Welche Bedarfe haben die Patientinnen und Patienten?

Was sagen Sie denen, die fordern, Ärzte müssten eben Praxishelferinnen und -helfer einstellen, die mehrere Sprachen sprechen?

Größere Praxen können das. Der Anreiz, es zu tun, ist aber gering. Durch die Übersetzungsleistungen vergeht Zeit, die nicht bezahlt wird. Wir brauchen Strukturen, die von Leistungs- und Fallzahlen unabhängig arbeiten. Und es sollte kompetente, neutrale Sprachmittlung stattfinden.

Was ist damit gemeint?

Früher hat man die arabisch oder türkisch sprechende Reinigungskraft im Krankenhaus hinzugezogen. Wenig hilfreich ist auch, wenn ein Kind im Grundschulalter für seinen Vater im Krankheitsfall übersetzen soll oder wenn der Sohn mit der Mutter zur Behandlung zum Gynäkologen geht. Wie es funktionieren kann, sehen wir am Beispiel der Non-Profit-Organisation Triaphon. Sie setzt sich zum Ziel, die medizinische Versorgung von Patientinnen oder Patienten mit Sprachbarriere im Telefongespräch zu verbessern.

Wen sehen Sie politisch in der Verantwortung, die Strukturen zu ändern?

Das Problem besteht seit der Arbeitsmigration in die BRD in den 1960er Jahren. Man ließ es liegen. Die Bundesregierung ist nun mit einer Bundesgesetzgebung gefragt. Wir haben die Gesundheitsämter. Was sie leisten müssten, war während der Pandemie zu sehen. Sie müssten besser ausgestattet und finanziert werden. Die Vergütung könnte durch Kommunen oder die Krankenversicherung geregelt werden. Man könnte auch die Nutzung von Triaphon als Leistung und eine Zusatzpauschale für zeitaufwendige Behandlung erstatten. Solche Vergütungsanreize sind aber auch Fehlanreize. Überantwortet man es den Praxen, kann es dazu führen, diese Leistung möglichst oft und niedrigschwellig zu erbringen.

Ist also die Logik des Kapitalismus das Problem?

So ist es. Es geht darum, die Menge der erbrachten Leistung zu erhöhen und nicht um den Auftrag der Gesundheitsversorgung für die Gemeinschaft. Und: Am liebsten will man die »gesunden Kranken«, nicht aber die schwierigen Patienten mit sozialen Kofaktoren, die zeitaufwendig und kompliziert zu behandeln sind.

Michael Janßen ist im Vorstand des Vereins demokratischer Ärzt*innen (VDÄÄ*) und Allgemeinmediziner in Berlin

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