75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 10. September 2024, Nr. 211
Die junge Welt wird von 2927 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 07.08.2024, Seite 4 / Inland
»From the river to the sea«

Ciao Meinungsfreiheit

Berlin: Gericht verurteilt Aktivistin nach Parole »From the river to the sea, Palestine will be free« wegen »Billigung von Straftaten«
Von Annuschka Eckhardt
4.jpg
Deutsche Gerichte versuchen die Parole auf verschiedenen Wegen zu kriminalisieren (Berlin, 4.11.2023)

Vor dem Amtsgericht in Berlin ist viel los am Dienstag morgen: Während um die 50 Personen einer Kundgebung vor dem Haupteingang lauschen, hat sich wenige Meter weiter eine lange Schlange vor dem Besuchereingang gebildet. »Warum brauchen die Justizbeamten fast fünf Minuten pro Person, um den Pass anzugucken und die Taschen zu durchleuchten?« beschwert sich eine junge Frau, die eine lila Kufija um die Schultern trägt. »Das ist reine Schikane«, antwortet ein Mann mit Wassermelonenkippa auf dem Kopf.

Angeklagt ist eine Anfang 20jährige, die am 11. Oktober vergangenen Jahres eine Kundgebung gegen Gewalt an Berliner Schulen vor dem Ernst-Abbe-Gymnasium in Berlin-Neukölln angemeldet hatte. Die Kundgebung wurde kurzfristig verboten; die Polizei war vor Ort. Nun sitzt Ava M. wegen der »Billigung von Straftaten« vor Gericht; ihr wird vorgeworfen, mit dem Rufen des Slogans »From the river to the sea, Palestine will be free« den »Angriff der Hamas verteidigt« zu haben. Die Billigung einer Straftat kann mit einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden.

Ava M. erklärt, dass sie zu ihrer Aussage stehe: ihrem Ruf nach »einem säkularen Staat ohne Unterdrückung« in Israel/Palästina. Ihre Familie bestehe aus iranischen Kommunisten, die verfolgt wurden, das habe sie auch politisch geprägt. Die 22jährige spricht sich klar gegen »jeden Sexismus, Rassismus und Antisemitismus« aus und »für ein Ende des Krieges, der Besatzung und der Gewalt«.

Während zwei Polizisten, die am 11. Oktober vor Ort waren, als Zeugen verhört werden, skandieren Demonstranten von draußen – durch die doppelten Fenster nur schwach zu hören – »Hoch die internationale Solidarität!« Die 20 zugelassenen Prozessbeobachter wispern Zustimmung. Derweil werden nach jW-Informationen drei Kundgebungsteilnehmer von der Polizei festgenommen – weil sie besagten Slogan in Redebeiträgen über den Prozess zitierten.

Staatsanwalt Tim Kaufmann behauptet in seinem Plädoyer, die Verfolgbarkeit im Inland wegen der »Billigung von Straftaten« sei in dem Fall gegeben, da auch deutsche Staatsangehörige bei dem Hamas-Angriff ums Leben gekommen seien. Das Bild, das die Verhandlung zeichne, befördere nur das, »was wir auf Berliner Straßen seit mehreren Monaten sehen«, vermutlich bezieht er sich auf palästinasolidarische Demonstrationen gegen den Genozid in Gaza. Natürlich seien solche Einschränkungen des Sagbaren immer etwas »hakelig« in bezug auf das Recht auf Meinungsfreiheit. Kaufmann schämt sich nicht, den »Schutz jüdischen Lebens« in der BRD für seine Argumentation zu instrumentalisieren; jüdische Menschen hätten Angst, meint der Staatsanwalt zu wissen.

»Wenn etwas Hass schürt, dann solche geschichtsvergessenen Plädoyers«, entgegnet Roland Meister, ein Verteidiger von Ava M., wütend. Ihr zweiter Verteidiger, Alexander Gorski, weist auf einen 14seitigen Beschluss des Amtsgerichts Mannheim hin, in dem sich die Richter umfassend mit der Herkunft und den möglichen Bedeutungen der Parole auseinandergesetzt haben und zu dem Schluss gekommen sind, dass eine straflose Interpretation nicht ausgeschlossen werden kann. Des weiteren erinnert er an den eigentlichen Grund der verbotenen Kundgebung im Oktober: Ein Lehrer hatte einen Schüler bei einem Streit um eine Palästina-Flagge geschlagen.

Bei der Urteilsverkündung schwadroniert Richterin Birgit Balzer über die »Staatsräson«, vergewaltigte Zivilisten und von der Hamas massakrierte Kinder.* Die Richterin verurteilt Ava M. zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 15 Euro. Dem Gericht sei es hierbei vor allem auf den Kontext dieser Parole, insbesondere auf den engen zeitlichen Zusammenhang zum 7. Oktober, angekommen. Der Satz könne »in diesem konkreten Zusammenhang nur als Leugnung des Existenzrechts Israels und Befürwortung des Angriffs verstanden werden«, so Balzer.

Das gesprochene Urteil sei ein schwarzer Tag für die Meinungsfreiheit, »weil weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht bereit waren, sich damit auseinanderzusetzen, was der konkrete Kontext der Parole war, noch waren sie bereit, Artikel fünf des Grundgesetzes, in dem die Meinungsfreiheit verankert ist, ausreichend zu würdigen«, sagt Gorski nach der Verhandlung gegenüber jW. So entstünde der Eindruck, dass sowohl Staatsanwaltschaft auch als Gericht einen unbedingten Verurteilungswillen hatten. »Bezeichnend dafür ist, dass die Richterin in der mündlichen Urteilsbegründung die ›Staatsräson‹ Deutschlands bemüht hat. Und das sagt schon alles«, so Gorski.

* Hinweis: In einer ersten Version dieses Artikels hieß es, die Richterin habe in ihrer mündlichen Urteilsbegründung von »geköpften Babys« gesprochen. Von Seiten des Gerichts gibt es Zweifel an dieser Wiedergabe. Wir haben die Textpassage entsprechend geändert. (jW)

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Andreas Kubenka aus Berlin (7. August 2024 um 18:13 Uhr)
    Bei denen, die überhaupt für eine Zweistaatenlösung des Palästinaproblems eintraten, war immer weitgehender Konsens, dass Israel sich auf die bis 1967 bestehenden Grenzen - die damals eigentlich nur Demarkationslinien waren - zu beschränken habe. Der zu gründende Palästinenserstaat wäre im Rest des historischen Palästina-Mandatsgebiets zu errichten, also im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Nun liegt das Westjordangebiet aber nun einmal am »River« Jordan und der Gaza-Streifen an der mediterranen »Sea«. Die kriminalisierte Parole »From the River to the Sea« ist nur dann eine Leugnung des »Existenzrechts Israels«, wenn explizit ausgeschlossen würde, dass zwischen den beiden geographischen Markierungen - neben Palästina - auch noch Israel liegt.

Ähnliche:

Regio: