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Aus: Ausgabe vom 07.08.2024, Seite 11 / Feuilleton
Designtheorie

Die Geschichte ist kein Spielzeug

Leben soll gestaltet werden: Heinz Hirdinas Vorlesungen über die Theorie und Geschichte des Designs
Von Martin Küpper
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»Gib mir eine Vespa, und ich bring’ dich in die Ferien« – Lùnapop (Werbefoto, 1950)

»Hat der alte Hexenmeister / Sich doch einmal wegbegeben! / Und nun sollen seine Geister / Auch nach meinem Willen leben.« Wer musste nicht die 14 Strophen von Goethes Ballade »Der Zauberlehrling« (1798) vor der versammelten Klasse aufsagen? In einem besseren Deutschunterricht hat man zur Rezitation noch eine Interpretation gewagt. Manche sehen in den Versen ein Gleichnis auf die Französische Revolution, die ihre eigenen Kinder gefressen hat. Andere wiederum betonen die dargestellte Kluft zwischen dem, was Wissenschaft will, und dem, was tatsächlich daraus wird. Und nicht zuletzt gibt es intergenerationelle Lesarten, in denen herausgestrichen wird, dass jede Altersklasse immer nur der Lehrling der vorangegangenen ist. Erfrischender ist es, die Ballade als eine über die Entfremdung zu lesen – die also von Gegenständen handelt, die dazu geschaffen werden, einen Zweck zu erfüllen, sich aber im Gebrauch verselbständigen, als hätten sie einen eigenen Willen.

Diese Deutung hat der 2013 verstorbene Designtheoretiker Heinz Hirdina seinen Studenten an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee nahegelegt und dabei das Verhältnis von Mittel und Zweck, Bedarf und Bedürfnis sowie den Funktionsbegriff diskutiert. Es gehe heute »nicht nur um das Gestalten von Dingen, sondern um das Gestalten von Verhältnissen, die dazu noch als Prozesse erscheinen«. Die Dinge seien im 20. Jahrhundert – und das unterscheide Goethes Wasserträger im Zauberlehrling von einem Geldautomaten – mehr und mehr »zu Teilen eines Systems, eines Funktionskomplexes« geworden. Die Dinge würden im modernen Kapitalismus gegenüber den Zusammenhängen an Bedeutung verlieren. Diese wiederum verselbständigten sich gegenüber den Individuen und beherrschten diese. Ein nicht unwesentlicher Aspekt dieser Beherrschung bestehe darin, dass Zusammenhänge wieder aufgerissen, zertrümmert und neu verbunden würden, und die Individuen sich diesem Wechsel anpassen müssten, koste es, was wolle. Daraus ergäben sich für die Studenten zwei Fragen: Wie müssen Gegenstände beschaffen sein, diese Transformationen auszuhalten? Und mit welchen Forderungen an die Individuen ist dieser stetige Wechsel der Zusammenhänge verbunden?

Wie das Design sich diesen Problemen stellte, ist der Gegenstand von Hirdinas Vorlesungen über dessen Theorie und Geschichte, die nun von Achim Trebeß in zwei Bänden herausgegeben wurden. Bereits 2020 ist ein erster Band über »Figur und Grund« erschienen. Im Nachlass fand sich ein ganzes Konvolut an Vorlesungen, die Hirdina von 1988 bis 2004 an der Kunsthochschule gehalten hat. Für die Veröffentlichung wurde alles redaktionell aufbereitet, geprüft und, wo nötig, ergänzt. Bei der Lektüre gewinnt man einen plastischen Eindruck davon, wie Hirdina mit zahlreichen Dias gewappnet über das Wohnen, Entwicklungen in Japan und Italien, Design im deutschen Faschismus oder Adolf Loos referierte. Die Sprache Hirdinas ist angenehm schnörkellos, die Ideen werden nachvollziehbar gegliedert und konzise entwickelt. Er verfügt über ein breites Methodenrepertoire, das die Instrumente der Begriffsgeschichte, der Semiotik wie der Sozialgeschichte umfasst.

Dabei geht es Hirdina nicht darum, Vergangenes zu katalogisieren, er verbindet seine Darstellung der Entwicklungen des Designs immer mit systematischen Fragen, die für die Gegenwart und die Zukunft relevant sind. Dafür ordnet er entlang dreier Kategorien: Raum, Zeit und Natur. Das umfasst auch die Ökonomie und die Beziehungen der Dinge zu den Nutzern. Die zentrale Designaufgabe bestehe darin, ökologische Probleme zu lösen. Das postmoderne Design etwa, vertreten durch Ettore Sottsass, dient Hirdina dabei als zu kritisierender Gegenentwurf. Ökologisches und postmodernes Denken seien zwar beide global orientiert, die Postmoderne zeichne sich jedoch durch »das Abweisen von Abhängigkeiten, Verbindlichkeiten und damit auch das Zurückweisen von Verantwortung jeglicher Art« aus. Die Ökologie hingegen zeige, wie der »globale Raum ein Raum von Wechselwirkungen« sei. Das hat Folgen für das Zeitverständnis: Die Ökologie sehe die Geschichte nicht als »Spielzeug«, das nur noch eklektisch zitiert werden könne. Die Vergangenheit sei hier vielmehr die Grundlage für das Morgen, also »jene Zeit, in der die Früchte der Verbrechen geerntet werden, die an den Lebensgrundlagen begangen worden sind«. Hirdina fordert die angehenden Designer immer wieder dazu auf, ihre Arbeit mit einer sozialen, utopischen Programmatik zu verknüpfen, wie es zuletzt im Funktionalismus der Fall war.

Die kritische Überprüfung einzelner Aspekte muss den versierten Designhistorikern überlassen werden. Manchmal mangelt es an philologischer Präzision, etwa wenn Hirdina hin und wieder auf Ernst Blochs Ideen der Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit verweist. Denn die Formel von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« gibt es bei Bloch nicht, sie geht auf Reinhart Koselleck zurück. Das sind aber Detailfragen, die die Qualität der Bände nicht im geringsten mindern. Diese dürften zukünftig als Standardwerke gelten.

Heinz Hirdina: Figur und Grund. Entwurfshaltungen im Design von William Morris bis Richard Buckminister Fuller. Vorlesungen, Bd. 1. Spector Books, Leipzig 2020, 336 Seiten, 28 Euro

Ders.: Einführung / Italien und Japan. Theorie und Geschichte des Designs 1. Vorlesungen, Bd. 2. Spector Books, Leipzig 2023, 220 Seiten, 24 Euro

Ders.: Reaktionen auf die Moderne. Theorie und Geschichte des Designs 2. Vorlesungen, Bd. 3. Spector Books, Leipzig 2023, 452 Seiten, 34 Euro

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