75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 19. September 2024, Nr. 219
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 07.08.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Kognitive Kriegführung

Von Carmela Negrete
14 rotlicht.jpg
OP am offenen Gehirn. Ganz so rustikal hat man sich die kognitive Kriegführung nicht vorzustellen

Nein, das ist keine Idee, die dem Autor eines Science-Fiction-Romans eingefallen ist, sondern ein seit 2020 bestehendes offizielles Konzept der NATO. Die vielleicht prägnanteste Definition des Begriffs »kognitive Kriegführung« liefert Marie-Pierre Raymond, die beim Zentrum für Verteidigungsforschung und -entwicklung Kanada (DRDC) arbeitet: Kognitive Kriegführung ist die »fortschrittlichste Form der Manipulation, die es heute gibt«.

Damit wird ganz unverblümt zum Ausdruck gebracht, dass das »Wertebündnis« NATO daran arbeitet, einen Kampf um die Köpfe zu führen. Das Gehirn gleicht damit einem Computer, den es zu hacken gilt, mit beispielsweise dem erwünschten Ergebnis, dass der gehackte Kopf einem Krieg nicht mehr ablehnend gegenübersteht. Dabei geht es nicht um gute Argumente und Erklärungen, sondern um Techniken, die bestimmte tiefenpsychologische Reaktionen oder auch Gefühle hervorrufen sollen. Bewusstsein und Emotionen der Menschen geraten zum neuen Kriegsschauplatz.

Solche »Soft Power« wirkt zunächst weniger martialisch und brutal als die typische Kriegführung mit dem Einsatz konventioneller Waffensysteme. Aber erstens hat zum Beispiel der klassische Schützengraben nicht ausgedient, siehe den Krieg in der Ukraine, und besteht ganz real die Bedrohung durch Atomwaffen, zweitens muss man sich die kognitive als Ergänzung zur traditionellen Kriegführung vorstellen. Von den ethischen Erwägungen gar nicht erst zu reden: Die NATO gibt selbst vor, an den »biophysikalischen, verhaltensbezogenen, biochemischen und genetischen Aspekten der kognitiven Fähigkeiten und des Verhaltens von Menschen« zu arbeiten. Das Ziel solcher kriegerischen Handlung ist nicht in erster Linie der Feind (der auch), sondern der eigene Bürger. Das wirft einige Fragen zur Legitimität solcher Methoden auf, denn sie sind ja vor allem dann wirksam, wenn sie nicht bemerkt werden. Wie soll es so eine demokratische Kontrolle darüber geben?

Ablenkung, Gedächtnis- oder Aufmerksamkeitsstörung sind nur einige Werkzeuge, um das Ziel zu erreichen, Meinungen und Handlungen zu lenken. Dass dabei mittels Big Data auch umfangreiche Manipulationen in den sozialen Netzwerken vorgenommen werden, versteht sich von selbst. Gelegentlich heißt es bei der NATO, dies seien Methoden, derer sich der Gegner – Russland oder China – bedient. Wenn auch nicht eingestanden, darf angenommen werden, dass die Staaten des transatlantischen Bündnisses ähnliche Mittel anwenden, schließlich gilt es, »wehrhaft« zu sein.

Ob nun die ausbleibende gesellschaftliche Antwort auf die Kriegstreiberei und auf die angekündigte Stationierung weitreichender ballistischer Waffen in Deutschland auf die neuesten Manipulationstechniken zurückzuführen sind, bleibt einstweilen ungeklärt. Mit den aktuellen Methoden soll die »Weltanschauung« des Gegners draußen, die des Kritikers und Zweiflers drinnen verändert werden. Teile der hiesigen Linken, von den Grünen nicht zu sprechen, sind jedenfalls schon Befürworter von Waffenlieferungen und Kriegsertüchtigung.

Der kolumbianische Präsident Gustavo Petro misst dem Problem der kognitiven Kriegführung einige Bedeutung bei. Im vergangenen Juni ließ er eine Konferenz zum Thema ausrichten, auf der das Ziel einer »freien Gesellschaft ohne informationelle Manipulationen« ausgegeben wurde. Um der Militarisierung der Hirne zu entkommen, brauche es eine gemeinsame Resilienz der Gesellschaft, die wehrhaft werden müsse, aber nicht im militärischen, sondern im kritischen Sinne. Ein gutes Beispiel liefert in diesen Tagen der Fall Venezuela. Die Forderung an Präsident Nicolás Maduro, er möge die vollständigen Wahlergebnisse vorlegen, erzeugt einen falschen Eindruck, da nicht er und seine Regierung dafür zuständig sind, sondern eine unabhängige Behörde, die dafür 30 Tage hat. Dass die USA und andere Staaten des Westens einen oppositionellen Kandidaten zum Wahlsieger erklären, ohne das offizielle Endergebnis abzuwarten, passt in den Rahmen der kognitiven Kriegführung.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Peter Radtke (7. August 2024 um 10:51 Uhr)
    Ein etwas aktualisierter Name für die psychologische Kriegsführung, welche spätestens seit dem Ersten Weltkrieg immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Fortschritte bei der Erforschung der Arbeitsweise des Gehirns und der Verhaltenssteuerung sowie das millionenfache »freiwillige Bereitstellen« der Daten zum täglichen Leben per diverser Apps und Klicks auf den Zustimmen-Button im Internet machen es den Akteuren leichter, an den richtigen Stellen anzusetzen. Ihnen stehen IT-Techniker zu Seite, die mittels Big-Data-Analysen und KI Wahrscheinlichkeiten errechnen und Zeiträume bestimmen. Die Manipulation soll nicht bemerkt werden, deshalb möglichst oft mit dem Finger auf andere (China, Russland) zeigen sowie von Verteidigung »unserer Werte« und der Demokratie palavern. Und natürlich von der ach so freien Presse. Zeitungen, die derartige Hintergründe beleuchten, sind natürlich nicht genehm. Ein Verbot lässt sich mit der selbst postulierten Rechtsstaatlichkeit derzeit nicht umsetzen, also Anhaltspunkte für Verfassungsfeindlichkeit anführen und alles unternehmen, um die Relevanz und »Wirkmächtigkeit« einzuschränken. Willkommen auf einem Nebenschauplatz der kognitiven Kriegsführung.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (6. August 2024 um 21:44 Uhr)
    Kurz und bündig könnte man die kognitive Kriegführung als Fortsetzung des Klassenkampfes mit anderen Mitteln definieren: »People who utilize cognitive warfare essentially have the competence of influencing and shaping the opinion of society« (Deepl: Menschen, die sich der kognitiven Kriegsführung bedienen, haben im Wesentlichen die Kompetenz, die Meinung der Gesellschaft zu beeinflussen und zu formen. Zitiert aus dem im Artikel angeführten Dokument https://innovationhub-act.org/wp-content/uploads/2023/12/Open-Innovation-Cognitive-Warfare.pdf). Damit wird versucht, das falsche Bewusstsein vom richtigen Sein aufrecht zu erhalten. Da drängt sich die Frage auf, warum man meint, kognitive Kriegführung nötig zu haben. Gibt es Anzeichen, dass Aspekte des richtigen Seins an verschiedenen Stellen zutage treten? Welche könnten das sein? Multipolarität, Kooperativität, Solidarität? Daher weht der Wind: »It seeks to sow doubt, to introduce conflicting narratives, to polarise opinion, to radicalise groups, and to motivate them to acts that can disrupt or fragment an otherwise cohesive society. And the widespread use of social media and smart device technologies in Alliance member countries may make them particularly vulnerable to this kind of attack.« (Deepl: Sie versucht, Zweifel zu säen, widersprüchliche Darstellungen zu verbreiten, Meinungen zu polarisieren, Gruppen zu radikalisieren und sie zu Handlungen zu motivieren, die eine ansonsten zusammenhaltende Gesellschaft stören oder zersplittern können. Und die weit verbreitete Nutzung sozialer Medien und intelligenter Geräte in den Mitgliedsländern des Bündnisses kann sie für diese Art von Angriffen besonders anfällig machen. https://www.nato.int/docu/review/articles/2021/05/20/countering-cognitive-warfare-awareness-and-resilience/index.html). Man ersetze »in den Mitgliedsländern des Bündnisses« durch »in Venezuela« oder »in Kuba« oder ähnliches und hat das Drehbuch Blinkens entdeckt.

Mehr aus: Feuilleton