Die Causa Khelif
Von Mara PfeifferAls der kürzeste Boxkampf der Welt gilt der Kampf zwischen Raphael Walton und Aurele Couture 1946 in Lewiston. Zwar standen am Ende 10,5 Sekunden auf der Uhr, und die Ratingseite boxrec.com verzeichnet auch kürzere Kämpfe – in diesen 10,5 Sekunden ist aber bereits die Zeit eingerechnet, die der Ringrichter zum Auszählen benötigte. Zu Boden ging Walton schon nach 1,5 Sekunden.
Mike Tyson schickte seinen Gegner Lou Savarese einst nach 38 Sekunden auf die Bretter, Vitali Klitschko bescherte Mike Acklie nach 32 Sekunden einen Knockout. Gestört haben sich an den kurzen Kämpfen bloß jene Zuschauer, für die der Abend schneller als erhofft vorbei war.
Anders bekanntlich der Verlauf im Nachgang des Sieges der Algerierin Imane Khelif gegen die Italienerin Angela Carini im Achtelfinale des olympischen Boxturniers. Kaum hatte die unterlegene Carini die Wucht des Schlages beklagt, der sie getroffen hatte, ploppte schon die Behauptung auf, Khelif sei eine trans Frau oder ein cis Mann. Unterfüttert wurden das mit ihrem Ausschluss von der WM 2023 in Indien, ausgesprochen von der International Boxing Association (IBA).
Zwei Dinge sind daran problematisch: Die IBA wurde bereits 2019 vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) suspendiert, unter anderem wegen des Verdachts manipulierter Ringrichterurteile und unklarer Geldflüsse sowie ihrer finanziellen Abhängigkeit vom russischen Gasprom-Konzern. Der Internationale Sportgerichtshof (Tribunal Arbitral du Sport) in Lausanne bestätigte 2023 den Ausschluss. Zudem sind die Aussagen der IBA, wieso Khelif ausgeschlossen wurde, widersprüchlich.
Zum einen heißt es, Khelif und die ebenfalls vom Weltverband suspendierte Olympionikin Lin Yu Ting (Taiwan) hätten einen Geschlechtstest nicht bestanden, sie hätten neben einem X- auch ein Y-Chromosom. Dann wiederum ist die Rede von erhöhten Testosteronwerten. Welche Tests genau durchgeführt wurden, lässt sich die IBA nicht entlocken. Das alles klingt nicht nach der Absicht, die Fakten liefern zu wollen, die eine inhaltliche Debatte überhaupt erst ermöglichen würden.
Das IOC hingegen hat durch seinen Sprecher am Freitag noch einmal betont, es handle sich schlicht um eine Falschbehauptung, dass Khelif trans sei. Die Sportlerin selbst ist mittlerweile erstmals an die Öffentlichkeit gegangen und hat im TV-Interview mit dem Sender SNTV darum gebeten, die Hetzjagd zu beenden. Zuvor hatten ihre Eltern sie bereits öffentlich unterstützt.
Es dürfte die aufgeheizte Debatte nicht beruhigen. Doch schon jetzt steht fest, dass es ein großer Fehler wäre, die Diskussion darauf zu verkürzen, der Umgang mit Khelif sei nur deshalb problematisch, weil sie nicht trans ist. Die Kampagne der letzten Tage ist durch nichts zu rechtfertigen, und die Art und Weise, wie die Boxerin attackiert wird, hat nichts mit Fairness oder dem olympischen Gedanken zu tun, obwohl sich der wütende (digitale) Mob gern darauf beruft.
Dass die Binarität der Geschlechter ein soziales Konstrukt darstellt, ist zwar eine hinlänglich bekannte These, speziell im Sport fällt es vielen aber schwer, mit dem zu brechen, was sie kennen. Dabei muss es gar nicht um die Frage gehen, ob womöglich andere Kategorien für sportliche Wettbewerbe besser taugen als das Geschlecht. Die Irritation durch eine Person, deren Optik mit Genderklischees bricht, reicht bereits aus.
Der daraufhin geäußerte Hass ist im Kern immer transfeindlich, und zwar unabhängig davon, ob die betroffene Person tatsächlich trans ist. Die Gründe für Verachtung und Häme wie auch das Herabsetzen der Betroffenen liegen in diesem Bruch mit der Erwartung. Weil dieser besonders Frauen nicht zugestanden wird, ist der Hass nicht nur trans-, sondern eben auch frauenfeindlich. Die Abwertung ebenso wie der zugrundeliegende Argwohn trifft zudem nicht-weiße Menschen häufiger als weiße, ist ergo zu allem anderen rassistisch.
In der Causa Khelif geht es deshalb nur vordergründig um die Boxerin und ihr Geschlecht. Vielmehr werden auch in diesem an Fakten und Zusammenhängen wenig interessierten Streit Dinge verhandelt, die über den Sport weit hinausgehen.
Letztlich geht es immer um den Erhalt des Patriarchats. Das macht es besonders lächerlich, wenn von einer »Rettung des Frauensports« fabuliert wird. Denn was verbirgt sich hinter dem Angriff auf Frauen, denen der patriarchal gebrochene Blick nichtweibliche Attribute zuschreibt? Eben dass jenen, die besonders stark, groß oder schnell sind, gesellschaftlich kurzerhand das Frausein aberkannt wird. Frau-zu-sein wird so von außen definiert und begrenzt. Ein überaus gewaltsamer Vorgang, aber kein neuer.
Mara Pfeiffer ist Autorin und Sportjournalistin. Sie zählt zu den Gründerinnen des Podcasts »FRÜF – Frauen reden über Fußball
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Spaniens Sonne
vom 07.08.2024
Wenn Khelif zwar von der IBA gesperrt wurde, die IBA dann vom IOC, sollte man nicht anmeckern, daß die Befunde-Offenlegung ausblieb. Mit elementarer Minimal-Diplomatie statt zweifelhaftem Argumentationsmüll, auch seitens des IOC, wäre das Problem schon längst geklärt worden. Frau Pfeiffer sollte sich da in ihrer Argumentation zurückhalten, denn sie steht auf dünnem Eis. Fragen gibt es da auch an die jW-Sportredaktion. Die Tragik eines früheren Falles offenbarte sich z. B. erst nach dem Tode von Stanisława Walasiewicz (Stella Walsh Olson).
Ich bin jetzt 72 und habe zudem übers Boxen aus gutem Grunde eine sehr negative Meinung. In meiner Kindheit war es die letzte Rettung, um nicht kaputt gemacht zu werden. Wegen kleiner körperlicher Auffälligkeiten und dem Haß, weil mir das Denken leichter fiel. Die Prügelangriffe reichten bis weit ins Erwachsenenalter. Damals waren 1,86 Meter/84 Kilogramm leider oft die letzte und immer (!) glückende schwerstbrutale Rettung.
Einige wenige Boxer beherrschten noch das »Fechten mit Fäusten«. Findet man das heute noch? Nein, nur den wahnhaften Druck zum Wirkungstreffer! Ab einer gewissen Schlaghärte ist ja jeder Kopftreffer zwangsläufig ein Gehirnschaden und ohne Boxhandschuhe ein Schädelbruch. Die Versehrten-Galerie der Boxer ist ziemlich lang.
Die Algerierin Khelif nutzt das Boxen wohl wie viele andere auch als Chance für ein besseres späteres Leben. Wer aber bei der gegebenen Sachlage das heutige Profi-Boxen als »Sport« ansieht, ist schlicht krank im Kopf.
Vermutliche (?) Kapriolen der Biologie wurden nicht geklärt und allseits schlecht gehandhabt. Schade.