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Aus: Ausgabe vom 12.08.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Lateinamerika

Opposition gegen Ortega

Parteien in Nicaragua: Die ehemalige Befreiungsbewegung FSLN regiert das mittelamerikanische Land nahezu unangefochten
Von Thorben Austen, Quetzaltenango
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Stehen fest hinter Ortega: Kundgebung zum 43. Jubiläum der Sandinistischen Revolution in Managua (19.7.2022)

Der »Ortegaismus« in Nicaragua steckt in der Krise. So sieht es jedenfalls die Union für Demokratische Erneuerung (Unamos) in einem im Juli veröffentlichten Kommuniqué. Der Notstand zeige sich in einer Reihe von Festnahmen und Amtsenthebungen von Verbündeten des Staatspräsidenten Daniel Ortega. Betroffen waren unter anderem der General Francisco Orlando Talavera und Jorge Guerrera, ehemaliger stellvertretender Geheimdienstchef. Guerrera hatte in den 1970er Jahren gemeinsam mit Ortega im Widerstand gegen die Diktatur von Anastasio Somoza in Haft gesessen. Einige der Entlassungen und Festnahmen sollen im Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen stehen, konkrete Anklagepunkte gebe es bisher aber nicht.

Unamos versteht sich als sozialdemokratisch orientierte Opposition gegen die Regierung der linken Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN). Gegründet wurde die Abspaltung der FSLN 1995 als Bewegung der Sandinistischen Erneuerung (MRS). Sie repräsentierte eine Minderheit in der FSLN und wollte sich nach dem Ende der Sowjetunion an der neoliberalen Demokratie orientieren, erklärte der Journalist Jorge Capelán 2022 im Gespräch mit jW. Seit 2016 ist die MRS Teil der Progressiven Allianz, eines 2013 auf Bestreben von Sigmar Gabriel und der deutschen SPD gegründeten Netzwerks.

2008 verlor die MRS in Nicaragua nach einer Entscheidung des Wahlgerichtes ihren Parteienstatus. Durch ein Bündnis mit der rechten Unabhängigen Liberalen Partei konnte sie bei den Wahlen 2011 zwei Abgeordnete ins Parlament entsenden. 2018 gründete die MRS gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen das Oppositionsbündnis Nationale Einheit Blau-Weiß, das an den folgenden Wahlen jedoch nicht teilnahm. Nach Presseinformationen verfügte das Bündnis Anfang 2021 über »Strukturen auf 100 Prozent des nationalen Territoriums«.

Im gleichen Jahr änderte die MRS ihren Namen in Unamos. Der FSLN nahestehende Medien werfen der MRS vor, unter anderem über die Entwicklungsbehörde USAID aus den USA finanziert zu werden. Die MRS habe bei Wahlen nie mehr als sechs Prozent der Stimmen erreicht, die »kleine Bourgeoise« der MRS kontrolliere aber die Nichtregierungsorganisationen und die Medien. »Dutzende Millionen Dollar« seien über USAID an Oppositionsparteien geflossen, hieß es in einem Artikel von El 19 Digital von 2021.

Die MRS habe eine »zentrale Rolle beim versuchten Staatsstreich 2018 gespielt«. 2018 hatten nach einer Reform der Rentengesetzgebung große Proteste das Land erschüttert, bei denen nach Medienberichten mehr als 300 Menschen ums Leben kamen. Capelán bewertete die Vorgänge gegenüber jW als »klassische Farbenrevolution« und verwies auf gewaltsame Übergriffe auf Sandinistas, »Morde, Brandstiftungen und Vergewaltigungen«. Oppositionelle und die Mehrzahl der westlichen Medien sprachen dagegen von staatlicher Unterdrückung friedlicher Proteste.

Die FSLN hat die Wahlen 2021 deutlich gewonnen und stellt 75 der 90 Abgeordneten im Parlament. Größte Oppositionspartei ist die nationalkonservative Liberalkonstitutionelle Partei (PLC) mit aktuell neun Abgeordneten, die 1968 aus einer Abspaltung der Liberalnationalistischen Partei von Diktator Anastasio Somoza hervorgegangen war.

Oppositionelle Positionen vertritt auch die indigene Partei Yatama, eine Abkürzung von »Kinder der Mutter Erde«, die 2021 einen Sitz im Parlament gewann. Abgeordneter war Brooklyn Rivera, ein ehemaliger Anführer der Contra, der ab Mitte der 1980er Jahre in Bewegungen der Miskito-Indigenen bewaffnet gegen die Sandinistische Revolution gekämpft hatte, unterstützt und finanziert von den USA. Nach einem Besuch in den USA im April 2023, bei dem Rivera vor einem UN-Forum über »Invasionen« in ihr Territorium an der Karibikküste sprach, war ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt worden. Er gelangte über die grüne Grenze trotzdem nach Nicaragua und wurde Ende September festgenommen, worauf Yatama im Oktober der Parteienstatus entzogen wurde. Am Montag lehnte der Oberste Gerichtshof einen Einspruch der Partei gegen ihren Ausschluss bei den Regionalwahlen 2024 an der Karibikküste ab. Frauen aus dem Umfeld der Yatama demonstrierten mit einer Mahnwache vor dem Gerichtshof mehrere Tage lang gegen die Entscheidung, berichtete El 19 Digital.

Auch die rechte Partei Bürger für die Freiheit (CxL) hatte 2021 ihren Parteienstatus verloren. Das Wahlgericht warf ihr »Konspiration« und »Unterstützung von Hass und Terrorismus« vor. Die Partei selbst sprach von einer »ungerechtfertigten Suspendierung« und von der »Angst des Regimes an der Wahlurne«. Der Suspendierung vorausgegangen waren zwei Anzeigen vor dem Wahlgericht von seiten der PLC. Die CxL war teilweise von Dissidenten der PLC gegründet worden.

Hintergrund: FSLN und Wahlen

Nach dem Sieg im Guerillakampf gegen die jahrzehntelange Familiendiktatur der Familie Somoza wurde Nicaragua zunächst von einem siebenköpfigen Rat des Nationalen Wiederaufbaus regiert. Diesem Gremium gehörten neben den ehemaligen Guerillakommandeuren Daniel Ortega und Moisés Hassan auch spätere Oppositionelle an wie Arturo Cruz, der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Contra politisch unterstützte. Als einzige Frau war Violeta Chamorro vertreten, die 1990 die Wahlen für ein oppositionelles Parteienbündnis gegen die FSLN gewann. Bei den ersten Wahlen am 4. November 1984 setzte sich Ortega mit knapp 67 Prozent der Stimmen durch. Ortega war seitdem bei allen Wahlen der Präsidentschaftskandidat der FSLN. 1990 verlor die FSLN die Wahlen nach zehn Jahren des »Contra«-Krieges bei einer Rekordwahlbeteiligung von 86 Prozent. Für Violeta Chamorro von der Nationalen Oppositionsallianz stimmten damals 54,7 Prozent, für Ortega 40,8 Prozent. Chamorro war damals die erste gewählte Präsidentin des amerikanischen Kontinents.

1996 und 2001 wurden die Wahlen von der Liberalkonstitutionellen Partei (PLC) gewonnen. 2006 gelangte die FSLN nach 16 Jahren mit 38 Prozent zurück an die Regierung. Zugute kam der FSLN auch eine im Vorjahr erfolgt Wahlreform, nach der für einen Sieg in der ersten Runde 35 Prozentpunkte bei mindestens fünf Prozent Vorsprung ausreichten.

Seit 2011 hat Ortega alle Wiederwahlen mit deutlichem Vorsprung gewonnen. Auch bei den Kommunalwahlen im November 2022 siegte die FSLN deutlich und stellt seitdem in allen 153 Landkreisen die Bürgermeister.

Die Regionalwahlen an der Karibikküste gewann die FSLN im März dieses Jahres mit fast 89 Prozent. 2019 hatten bei den gleichen Wahlen 61 Prozent für die FSLN gestimmt. (tha)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (12. August 2024 um 10:16 Uhr)
    »Seit 2016 ist die MRS Teil der Progressiven Allianz, eines 2013 auf Bestreben von Sigmar Gabriel und der deutschen SPD gegründeten Netzwerks«. Googelt man nach »Progressiv«, kommt als Ergebnis: »1. fortschrittlich ›eine progressive Konzeption‹ 2. sich in einem bestimmten Verhältnis allmählich steigernd, entwickelnd ›eine progressive Gehirnlähmung‹« Die zweite Definition passt wohl noch am ehesten zu dem von Sigmar Gabriel und der deutschen SPD gegründeten Netzwerk.

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