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Aus: Ausgabe vom 12.08.2024, Seite 10 / Feuilleton
Comic

Die Katastrophe der Geburt

Tempo, Farbe, Witz: Catherine Meurisse treibt in ihren Comicstrips klugen philosophischen Unfug
Von Marc Hieronimus
Wenn der Garten des Glücks zum Alptraum wird

Der Comic ist ein mittlerweile gut erprobtes Medium der Philosophie. Comics illustrieren schwere Gedanken, stellen sie dar, führen sie fort oder bieten eine willkommene Schmunzelpause zwischen ihnen. Vom durchaus unterrichtstauglichen »Philosophix. Das Höhlengleichnis und andere philosofische Ideen« von É. Garcin und A. Dan (Knesebeck 2022) und der sehr lustigen »Illustrierten Welt der Philosophie« von Ex-Charlie Hebdo-Zeichner Jul und dem Philosophen Charles Pépin (Anaconda 2019) war an dieser Stelle schon die Rede.

Mit Catherine Meurisse treibt seit einigen Jahren eine weitere Ex-Charlie klugen philosophischen Unfug, und zwar in dem auf französisch und deutsch erscheinenden Philosophie-Magazin. Sie greift einen im Heft behandelten Denker heraus und bringt seine oder einen seiner Kerngedanken auf zwei Seiten auf den Punkt. Da geht zum Beispiel eine Frau – sie ähnelt wie in jedem Strip der Autorin – zum Frauenarzt. »Sie waren schon mal hier, oder?« fragt die Assistentin. »Jaja … Das ist mein zweiundzwanzigster Ultraschall. Das ist wie eine gute Netflix-Serie, man kann einfach nicht abschalten.« Auf dem Bildschirm sieht man den kleinen Emil in ihrem Bauch, der seine Gedanken zu Papier bringt: »Wir eilen nicht dem Tod entgegen, wir entfliehen der Katastrophe der Geburt.« Die werdende Mutter kommentiert: »Das ist ja heiter.« Und in der Tat hellen sich die Gedanken E. M. Ciorans, den die eine oder andere hier bereits erkannt haben wird, im weiteren nicht wirklich auf. »Die Angst vor dem Tod ist nichts weiter als die in Zukunft projizierte Angst unseres ersten Augenblicks«, »Das Böse, das wahre Böse steht hinter uns, nicht vor uns« usw. Am Ende will die Mutter abtreiben – auch das gewissermaßen authentisch, wie der Kenner weiß.

Die Anfangssätze aus Descartes’ »Meditationen über die Grundlagen der Philosophie« über ein Stück Wachs begleiten eine schmerzhafte Waxing-Epilationssitzung, von der aus die Protagonistin zu einem Date mit dem Autor besagter Meditationen eilt, das aber enttäuschend verläuft – »zu verkopft« sei er. Mit Gottlob Frege läuft es nicht besser, ständig kommt es zu Missverständnissen. Er will ihr eine Lektion erteilen, sie denkt an SM-Praktiken und zieht ihr Lederoutfit an, er spricht von Denotation, sie versteht Detonation, seine sprachphilosophischen Ausführungen füllen das ganze Panel, während für sie weniger der Sinn als der Klang und die Struktur von Bedeutung sind: »Deine Sprache macht mich verrückt! Der Akzent, die Beugung, das Verb am Schluss … Für mich ist Deutsch wie Kamasutra!« Als sie ihn völlig außer sich bedrängt, ihr »den Anschluss zu machen« und »den Reichstag abzubrennen«, sieht der Philosoph sich gezwungen, die Beziehung zu beenden.

Letztes Beispiel: In einem leeren Gasthaus doziert Karl Marx, das Proletariat müsse sich seiner Größe bewusst werden und die Macht ergreifen. »Das solltest du alles aufschreiben.« – »Hab’ ich doch gerade gesagt.« – »Hä? Wie das? Du hast ein Buch rausgebracht? Wusste ich ja gar nicht. Gibt es das irgendwo? Im Buchladen? Wo genau?« Der Autor des »Kapitals«, resigniert: »Wonirgends. Druckerei, Vertrieb und Auslieferung streiken.«

Die erste Comiczeichnerin unter den Mitgliedern der Académie des Beaux-Arts kann zeichnen, was und wie sie es will, beherrscht Porträt, Körperhaltung, Farbe, Überzeichnung, Comicelemente, Tempo, Farbe, Licht und natürlich Witz. Sie ist ihrem Pressestil weitgehend treu geblieben, hat ihn nur, wenngleich diesmal weniger meisterlich als in »Nami und das Meer« (2022), um Farbe erweitert. Die 46 behandelten Geistesgrößen reichen historisch von Heraklit bis Deleuze und Baudrillard, manches – wie das unvermeidliche Höhlengleichnis oder Roland Barthes Gedanken über den Citroën DS 19 (la »déesse«, die »Göttin«) – ist bekannt, anderes – wie die Werke von Fénélon, La Rochefoucauld oder Vladimir Jankélévitch – weniger. Keine Einführung in die jeweilige, oft schwer zugängliche Philosophie, mehr eine erfrischende Ablenkung.

Catherine Meurisse: Allzu Menschliches. Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Carlsen-Verlag, Hamburg 2024, 96 Seiten, 25 Euro

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