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Aus: Ausgabe vom 12.08.2024, Seite 12 / Thema
Postmoderne Philosophie

Vernunft im Plural

… und hinter tausend Sätzen keine Welt? Vor 100 Jahren wurde der französische Philosoph Jean-François Lyotard geboren
Von Marc Püschel
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Der vielfache Kant. Lyotard nannte als sein Hauptprinzip, »dass es nicht die eine Vernunft gibt«, sondern gleichsam mehrere. Was wohl der Königsberger Philosoph dazu gesagt hätte?

Postmodern ist einer der berüchtigtsten Begriffe der Gegenwart. In der öffentlichen Diskussion ist er mittlerweile zu einem recht diffusen Synonym für Beliebigkeit verkommen. Seine philosophischen Hintergründe sind dabei schon fast wieder in Vergessenheit geraten. Laut dem Philosophen Wolfgang Welsch taugt er daher »fast nur zu Missverständnissen, Diskreditierungen, Vorbeireden an der Sache«.¹

Der Begriff der Postmoderne taucht seit Anfang des 20. Jahrhunderts sporadisch auf und setzte sich am stärksten in literaturwissenschaftlichen Debatten in den USA fest. Bis Ende der 1960er Jahre schälte sich eine ungefähre Bedeutung heraus: Als postmodern galt, was einen grundsätzlichen Pluralismus von Sprachen, Methoden und Stilen beinhaltete. War der Begriff anfangs mitunter kulturpessimistisch-negativ besetzt – Pluralismus als Auflösungserscheinung – wurde er seit den 1960er Jahren zunehmend positiv konnotiert. Der US-amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks übernahm den Begriff schließlich für die Architektur, erst in dieser Funktion begann er auch in Europa populär zu werden. Es dauerte jedoch noch bis 1979, bis die »Postmoderne« auch auf der Bühne der Philosophie erschien – dann aber mit einem Knall.

Abweichung als Ziel

Als Jean-François Lyotard 1979 seine Schrift »Das postmoderne Wissen« veröffentlichte, war nicht abzusehen, dass mit ihr ein einprägsames Schlagwort für eine der kontroversesten Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte geschaffen war. Tatsächlich richtete sich die Schrift nicht einmal direkt an die Gemeinschaft der Philosophen. Es war eine Auftragsarbeit, die Lyotard für den Universitätsrat der Regierung von Québec verfasste, denn in Nordamerika hatte sich zu jener Zeit eine rege Debatte über die Rolle der höheren Bildung angesichts der technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts entsponnen.

Obwohl das angesichts des Präfixes naheliegend wäre, ist die Postmoderne für Lyotard kein Epochenbegriff. Sie ist nicht das nach einer »abgeschlossenen« Moderne Kommende, schließlich kann auch alles Vergangene in die Pluralität der Postmoderne eingemeindet werden. Gleichwohl liegt Lyotards Schrift eine Zeitdiagnose zugrunde. »Unsere Arbeitshypothese«, so schreibt er eingangs, »ist die, dass das Wissen in derselben Zeit, in der die Gesellschaften in das sogenannte postindustrielle und die Kulturen in das sogenannte postmoderne Zeitalter eintreten, sein Statut wechselt.«² Wissen und seine Gewinnung haben sich im Zeitalter der Informationstechnologien bedeutend verändert, denn »mit der Hegemonie der Informatik ist es eine bestimmte Logik, die sich durchsetzt«.

Lyotards Ausgangspunkt ist zunächst herrschaftskritisch: »Wer entscheidet, was Wissen ist, und wer weiß, was es zu entscheiden gilt? Die Frage des Wissens ist im Zeitalter der Informatik mehr denn je die Frage der Regierung. (…) Das große Problem wird zunehmend in der Verfügung über die Informationen liegen, die von diesen Automaten zu speichern sein werden, damit die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Die Verfügung über die Informationen fällt immer mehr in die Zuständigkeit von Experten aller Art. Die herrschende Klasse ist und wird die der Entscheidenden sein.«

Die Informatik wirft aber in besonderem Maße die Frage der Übersetzbarkeit und Weiterverarbeitung von Informationen auf, Heterogenes muss vereinheitlicht werden. So werden auch verschiedene Sprachspiele, wie Lyotard es in Anlehnung an Wittgenstein nennt, sowie die Kriterien, an denen sie gemessen werden, zwanghaft kompatibel gemacht. Die Wissenschaft stellt dabei für Lyotard ein besonderes Sprachspiel dar, nämlich ein denotatives bzw. deskriptives, dessen Ziel wahre beschreibende Aussagen über die Welt sind. Davon zu unterscheiden sind die präskriptive Aussageform (»Du sollst …«), deren Kriterium nicht Wahrheit, sondern Gerechtigkeit ist, und die technische Aussageform, die alles nach dem Maßstab der Effizienz bemisst.

Diese Sprachspiele sind für Lyotard »inkommensurabel«, also nicht aufeinander reduzierbar. Aus einer wahren Aussage über die Welt lässt sich keine Vorgabe ableiten, was wir zu tun haben, und beides wiederum darf nicht nach dem Kriterium der Effizienz bemessen werden. Wird dies missachtet, nutzt es vor allem der Macht von Staat und Konzernen, die Wissensproduktion und Fragen nach Gerechtigkeit unter das Primat der Effizienz, und das heißt letztlich der Nützlichkeit für die eigene Macht stellen. So prognostiziert Lyotard für die Zukunft: »Die wissenschaftlichen Sprachspiele werden Spiele der Reichen werden, wo der Reichste die größte Chance hat, recht zu haben.« Damit einher geht eine harsche Kritik an dem Universitätsbetrieb der Gegenwart und an der Marktförmigkeit von Informationen, die wie Waren zirkulieren.

Lyotard fordert dagegen, jeder Aussageform bzw. jedem Sprachspiel den je besonderen Modus zu belassen, etwa Wissenschaft nur nach ihrer Fähigkeit, wahre Aussagen zu produzieren, zu beurteilen und zu organisieren. Von hier aus weitet er den Blick und analysiert allgemein Gesellschaft als einen sozialen Zusammenhang, der aus sprachlichen »Spielzügen« besteht, deren Heterogenität bewahrt werden muss.

Von diesem Befund ausgehend stellt Lyotard die Frage, wie sich Wissen überhaupt legitimiert, und entwickelt erst hier seine berühmte These vom »Ende der großen Erzählungen«. Ihr Grundgedanke besteht darin, dass die Wissenschaften sich niemals selbst begründen können, da sie dafür sich und ihre wissenschaftlichen Methoden bereits voraussetzen müssten und so einen logischen Fehlschluss begehen. So muss laut Lyotard Wissenschaft immer auf Nichtwissenschaft, auf Erzählungen, zurückgreifen, um sich in einem größeren Rahmen, auf einer Metaebene zu legitimieren.

Lyotard unterscheidet dabei im wesentlichen zwischen zwei großen Legitimationsmodellen in der Moderne. Zum einen die emanzipatorische Erzählung der Aufklärung, der zufolge alles Wissen zum zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit beträgt. Zum anderen die spekulative Erzählung des Deutschen Idealismus, die ein Metasubjekt – den absoluten Geist – postuliert, von dem her sich alle Einzelwissenschaften und alle Institutionen begründen. Der Marxismus wiederum habe »zwischen den beiden Arten narrativer Legitimierung, die wir eben beschrieben haben, geschwankt« – er sei sozusagen eine Fortschrittserzählung im Dienste eines Metasubjekts namens Proletariat.

Nun behauptet Lyotard, alle »großen Erzählungen« hätten ihre Glaubwürdigkeit verloren. Zur Begründung verweist er auf immanente Tendenzen der Erzählungen. Die emanzipatorische Erzählung scheitere daran, dass aus wissenschaftlichen Beschreibungen keine normativen Aussagen getroffen werden können. Wahre Aussagen über die Welt sagen noch nicht, wie man sie verändern soll oder warum überhaupt. Die spekulative Erzählung wiederum gerate in die Krise, wenn die Methodik empirischer Wissenschaften, die ja mit der Erzählung legitimiert werden sollen, auf sie selbst angewendet werden. Dem Einzelwissenschaftler erscheint jede Weltanschauung als unbegründete Ideologie.

Daher können die verschiedenen Sprachspiele weder in einer einheitlichen Erzählung noch in einer universellen Metasprache aufgehoben werden, folgert Lyotard und verstärkt sein Argument durch Verweis auf den Unvollständigkeitssatz des Mathematikers Kurt Gödel. Da kein formales System seine eigene Widerspruchsfreiheit begründen kann und immer unvollständig bleibt, bleibt als verbindendes Element aller Sprachspiele nur die Alltagssprache übrig. Diese aber lässt im Unterschied zu logischen Systemen Widersprüche zu.

Lyotard konstatiert daher eine »entscheidende Verschiebung der Idee der Vernunft. Das Prinzip einer universellen Metasprache ist durch das der Pluralität formaler und axiomatischer Systeme ersetzt, die geeignet sind, denotative Aussagen zu beweisen. Sie werden in einer universellen, aber nicht konsistenten Metasprache beschrieben. Was im Wissen der klassischen und modernen Wissenschaft als ein Paradox oder sogar als Paralogismus galt, kann in einem dieser Systeme eine neue Überzeugungskraft und die Zustimmung der Expertengemeinschaft finden.«

In bezug auf die Wissenschaft bedeutet dies: Jede neue Entdeckung widerspricht einem bisherigen Teilsystem des Wissens an mindestens einem Punkt, erscheint in bezug auf dieses System zunächst paradox und führt neue Regeln in das bestehende wissenschaftliche Sprachspiel ein. Lyotard legt daher die Betonung auf Dissens statt Konsens und fordert: »Jede Aussage ist festzuhalten, sobald sie einen Unterschied zum Bekannten enthält, sobald sie argumentier- und beweisbar ist.«

Eine höhere Legitimität kann die Wissenschaft gleichfalls nicht mehr beanspruchen. Was übrig bliebe, wäre eine Vielzahl an »kleinen Erzählungen«, relativen Wahrheiten, die sich in kein großes Ganzes integrieren lassen. Das postmoderne Wissen bedeutet wesentlich Selbstbeschränkung und »verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen«. Als Voraussetzung für die Möglichkeit solcher kleinen Erzählungen aber stellt Lyotard in Rückbezug auf seinen Ausgangspunkt wieder eine handfeste Forderung auf: »Die Öffentlichkeit müsste freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten.«

Aus der Krise geboren

Zu der Zeit, als Lyotard diese Forderung erhob, war er schon Mitte 50. Es bedurfte einer langen, wechselhaften intellektuellen Entwicklung, bevor er in diesem Alter zu seiner eigenen Theorie fand.

Geboren wird Jean-François Lyotard am 10. August 1924 in Versailles. Was zunächst wie ein typisch bildungsbürgerlicher Lebensweg beginnt – er studiert Philosophie an der Sorbonne –, nimmt eine drastische Wendung, als Lyotard im Oktober 1950 nach Algerien geht und als Gymnasiallehrer in der Stadt Constantine arbeitet. Die zwei Jahre in der französischen Kolonie prägen ihn nachhaltig. Angesichts der Unterdrückung der algerischen Bevölkerung durch die französischen Kolonisatoren politisiert er sich, wird gewerkschaftlich aktiv und liest Marx. Als Lehrer erlebt er zudem hautnah mit, wie hohl die Rede von der »Zivilisierungsmission« ist, mit der die »Grande Nation« ihre Herrschaft über Nordafrika begründet. So liegt etwa die Analphabetenrate unter algerischen Jugendlichen in den 1950er Jahren noch höher als vor Beginn der Kolonisation. Lyotard macht »allererste persönliche Desillusionierungserfahrung mit Legitimitätsdiskursen«³.

Zurück in Frankreich setzt sich Lyotard nach Beginn des Algerienkriegs 1954 für die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN ein und wird zugleich Mitglied der kleinen Organisation um die Zeitschrift Socialisme ou Barbarie (Sozialismus oder Barbarei). Für die aus dem Trotzkismus kommende Gruppe, die einen antidogmatisch-marxistischen Standpunkt vertreten will, schreibt Lyotard unter dem Pseudonym »François Laborde« ausführliche Analysen zur Lage in Algerien. Darin verficht er den Standpunkt einer bedingungslosen Unterstützung des Unabhängigkeitskampfes, obwohl ihm klar ist, dass auch ein künftig unabhängiges Algerien kein sozialistisches sein wird.

Mitte der 1960er Jahre scheint Lyotard auch von seinem politischen Engagement desillusioniert. Nachdem es zu Spaltungen bei Socialisme ou Barbarie gekommen ist, verlässt Lyotard 1966 die Gruppe; auch die Unruhen von 1968 vermögen nicht mehr, ihn dauerhaft in der Politik zu halten. Es folgen Jahre der Selbstreflexion und des Schreibens. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre erscheinen seine ersten Werke, darunter »Economie libidinale« (Libidinöse Ökonomie), in dem er unter Rückgriff auf die Psychoanalyse sich vom klassischen Marxismus theoretisch abzustoßen versucht. Lyotard selbst sprach später von einem »verzweifelten Buch«, das vor dem Hintergrund seiner persönlichen politischen Krise geschrieben wurde.⁴

Sein Fokus liegt mehr und mehr auf der akademischen Tätigkeit. Nach einigen Jahren als Assistent an der Sorbonne lehrt er ab 1966 in Nanterre, ab 1970 kurzzeitig an der berühmten Reformuniversität Vincennes und ab 1972 an der Universität Paris VIII. Besonders intensiv widmet er sich dabei dem Studium und der Vermittlung Kants, in dem er einen philosophischen Vorgänger sieht. Der Königsberger Philosoph habe mit der Differenzierung von theoretischer und praktischer Vernunft bereits die Unvereinbarkeit verschiedener Satzverwendungsregeln aufgewiesen.

Für weitere eigene Entwürfe lässt sich Lyotard noch einige Jahre Zeit, trifft dann aber im Ausgang der 1970er – als die Revolutionserwartungen der 1968er Bewegung und ihrer zahlreichen, meist maoistischen Gruppen offenkundig enttäuscht wurden – mit der These vom Ende der »großen Erzählungen« den Nerv der Zeit.

Grundlegung

So berühmt ihn »Das postmoderne Wissen« auch machte, Lyotard schätzte die Bedeutung der Schrift eher gering. Im nachhinein sprach er ihr in einem Interview sogar ab, ein philosophisches Buch zu sein, und verwies darauf, dass er erst in »Der Widerstreit« (Le Différend) aus dem Jahr 1983 seinen Thesen ein stabiles philosophisches Fundament gegeben habe. Erst hier sei sein Hauptprinzip verdeutlicht worden, »nämlich: dass es nicht die eine Vernunft gibt, sondern die Vernunft im Plural«.⁵

Das Werk besteht aus 264 zusammenhängenden Aphorismen, die durch Exkurse zu Klassikern der philosophischen Tradition (Platon, Aristoteles, Hegel, Kant) ergänzt werden. Lyotards Ansatz ist dabei in erster Linie ein sprachphilosophischer. Weitaus gründlicher und diffiziler als in »Das postmoderne Wissen« erörtert Lyotard die Unterschiede zwischen verschiedenen sprachlichen Satzregelsystemen wie Urteilen, Befehlen, Beschreiben oder Fragen. Diese wiederum untersucht er in ihrer Einbettung in Diskursarten (Sprachspiele) wie beispielsweise Recht sprechen, Wissenschaft betreiben, einen Dialog führen, Geschichten erzählen usw.

Sätze unterschiedlicher Regelsysteme, so Lyotards zentrale Behauptung, sind prinzipiell heterogen und können nicht ineinander übersetzt werden. Zum Beispiel folgt die Formulierung einer Frage prinzipiell anderen Regeln als ein Befehl. Überträgt man den Inhalt eines Befehls in eine Frage, so hat man eben diejenige Struktur, die den Befehl zu einem Befehl macht (u. a. eine bestimmte Relation von Befehlendem und Befohlenem), aufgelöst.

Sätze unterschiedlicher Regelsysteme können miteinander verkettet werden, ein Befehl etwa durch eine Frage ergänzt werden. Diese Verkettung kann zwar niemals nach notwendigen Kriterien erfolgen, da es kein übergeordnetes Regelsystem geben kann. Indem Satzverwendungsregeln jedoch in Diskursarten eingebettet werden, erfahren sie eine Ausrichtung auf einen bestimmten Zweck, durch den sich ihre Verkettung immerhin relativ begründen lässt. Da gleichwohl jedes Regelsystem und jede Diskursart ihre eigene Legitimität besitzt und trotzdem keines der miteinander verbundenen Glieder einer Satzkette auf das andere reduziert werden kann, bleibt prinzipiell immer der namensgebende »Widerstreit« bestehen: »Im Unterschied zu einem Rechtsstreit wäre ein Widerstreit ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, dass die andere nicht legitim ist.«⁶

Die umfassende und grundsätzlich unübersetzbare Pluralität der Sprache schlägt sich auch auf das Verständnis unserer Welt durch – bis hin zu dem Punkt, dass selbst die mit Descartes scheinbar gewonnene Sicherheit des eigenen Subjekts in Frage gestellt wird. Die letzte Gewissheit, die bleibt, sind nur Sätze: »Nicht das denkende oder reflexive Ich hält der Prüfung des alles umfassenden Zweifels stand, sondern der Satz und die Zeit. Aus dem Satz: ›Ich zweifle‹ folgt nicht, dass ich bin, es folgt vielmehr, dass es einen Satz gab.«

Widerworte

Gegen diese sehr weitreichende Annahme einer grundsätzlich unübersetzbaren Pluralität von Sätzen hat sich schnell Widerstand geregt. Selbst wenn man die polemischen Angriffe abzieht, bleibt gewichtige Kritik übrig. Auch der insgesamt eher wohlwollende Welsch beanstandete: »Wären die Diskursinformationen wirklich absolut heterogen, so könnten sie einander gar nicht begegnen, könnten einander nicht affizieren, also auch nicht beschneiden, verletzten, unterdrücken.«⁷ Es müsse demzufolge der Fokus für die Verflechtungen und Übergänge zwischen Satzregelsystemen und Diskursarten geschärft werden.

Auch der von Lyotard gepriesene Dissens entsteht nur durch die Bezugnahme auf einen gemeinsamen Gegenstand, ein Moment von Einheit lässt sich daher aus der Heterogenität niemals wegdenken. In diesem Sinne verwies etwa Manfred Frank darauf, dass erstens alle Sprachhandlungen, so heterogen sie sein mögen, in der Kontinuität eines gemeinsamen Lebens- und Gesellschaftszusammenhang stehen. Zweitens begehe Lyotard einen performativen Selbstwiderspruch: Er wolle ja selbst mit seiner Theorie andere überzeugen und erhebe damit Anspruch auf Konsens, nicht auf Dissens.⁸ Nicht nur auf Konsens, auch auf bestimmte Regelsysteme erhebt Lyotard durchgehend Anspruch, etwa das logische Argumentieren, denn offenkundig wird im ganzen »Widerstreit« die allgemeine Geltung der Logik vorausgesetzt.

Wenn auch Lyotard das Problem seiner eigenen Voraussetzungen sicher nicht hinreichend behandelt hat, lässt sich doch nicht behaupten, dass er blind dafür war. Er verweist selbst im »Widerstreit« darauf, dass »die Heterogenität der Satzregelsysteme nicht dazu angetan ist, deren gemeinsame Unterordnung unter ein und denselben Zweck zu verbieten«, und verleugnet auch seinen eigenen Zweck nicht: »In der Tat lesen Sie hier ein philosophisches Buch, die Sätze ordnen sich hier zu dem Zweck an, zu demonstrieren, dass sich diese Anordnung nicht von selbst versteht, und es gilt, die Regel ihrer Anordnung aufzuspüren.«

Das wirft aber die Frage auf, wozu der Fokus auf die absolute Heterogenität von Sätzen und Diskursen dient, wenn zugleich die Analyse der Zwecksetzungen, in die sie immer eingebunden sind, größtenteils ausbleibt. Dementsprechend schwach fällt auch seine Behauptung vom Ende der »großen Erzählungen« aus. Die beiden Legitimationsmodelle – das emanzipatorische und das spekulative – werden gar nicht untersucht, ihr Scheitern mehr oder wenig nur postuliert. Die Auseinandersetzung sowohl mit der Aufklärungsbewegung als auch der spekulativen Philosophie findet teils gar nicht statt, teils bleibt sie völlig unbefriedigend.

Hegel etwa widmet Lyotard in »Der Widerstreit« nur rund ein Dutzend Seiten, Fichte und Schelling kommen gar nicht in den Blick. Dabei pappen diese Philosophen eben nicht einfach eine Erzählung über alle Diskursarten, um sie zu vereinheitlichen, sondern suchen nach Wegen, wie sich methodisch, d. h. dialektisch-reflexiv, über den Zusammenhang der Welt nachdenken lässt. In bezug auf Hegel behandelt Lyotard zwar kurz die Dialektik und kritisiert den Gedanken, dass die bestimmte Negation ein positives Resultat zeitige, doch geht er dabei von einem falschen Verständnis von Identität aus: Das, was man bei Hegel recht platt als Stufe der »Synthese« bezeichnet hat, ist keine abstrakte Identität zweier Momente, die vereinigt werden, sondern steht selbst wieder in Differenz zu ihnen. Und gerade die Differenzbestimmungen (Widerspruch, Gegensatz, Unterschied), die Hegel in seiner Logik behandelt, werden von Lyotard gänzlich ignoriert. Zuletzt schreckt er auch vor ganz platten Vorwürfen nicht zurück: »Alles Wirkliche ist vernünftig, alles Vernünftige ist wirklich: ›Auschwitz‹ widerlegt die spekulative Doktrin.«

Das letzte Wort jedoch hat wieder die Kapitalismuskritik. Die Unterordnung unter die Zweckmäßigkeit des Kapitals sei Unrecht, so Lyotard: »Der Widerstreit zwischen Satzregelsystemen oder Diskursarten wird vom Gerichtshof des Kapitalismus für unerheblich erachtet. Der ökonomische Diskurs beseitigt mit seinem notwendigen Verkettungsmodus von einem Satz zum anderen das Vorkommnis, das Ereignis, das Wunder, die Erwartung einer Gemeinschaft von Gefühlen.« Dementsprechend sei auch »der Marxismus nicht zu Ende gekommen« und bleibe – solange er nicht selbst zentralistisch organisiert den Widerstreit unterdrücke – als »Gefühl des Widerstreits« bestehen.

Was mit diesem »Gefühl« anzufangen sei, lässt Lyotard offen. Das politische Handeln scheint ihm ganz aus dem Blick zu kommen, wenn er schreibt, »das einzige unüberwindliche Hindernis, auf das die Hegemonie des ökonomischen Diskurses stößt, (liege) in der Heterogenität der Satzregelsysteme und Diskursarten«. Bliebe als Widerstand gegen den ökonomischen Diskurs also selbst nichts anderes übrig als Appelle? Wird damit prinzipiell der Stab gebrochen über jede politische Organisierung, da sie der Pluralität Unrecht tue? Was können wir aus Lyotards Sprachkritik noch lernen? Darüber wird, paradox genug, zu sprechen sein.

Anmerkungen

1 Wolfgang Welsch: Vielheit ohne Einheit? Zum gegenwärtigen Spektrum der philosophischen Diskussion um die »Postmoderne«. In: Philosophisches Jahrbuch 94, 1987, S. 111–141, hier S. 111

2 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Wien 1986, S. 19

3 Onur Erdur: Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie. Berlin 2024, S. 61

4 Vgl. Walter Reese-Schäfer: Lyotard zur Einführung. 2., erweiterte Auflage. Hamburg 1989, S. 16

5 Willem van Reijen und Dick Veerman: Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik. Gespräch mit Jean-François Lyotard (geführt am 20. Juni 1987). In: Reese-Schäfer: Lyotard zur Einführung, S. 111–155, hier S. 113

6 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. 2. Auflage. München 1989, S. 9

7 Welsch, Vielheit ohne Einheit? S. 139

8 Vgl. Manfred Frank: Die Grenzen der Verständigung. Frankfurt am Main 1988, u. a. S. 34 und 60

Marc Püschel schrieb an dieser Stelle zuletzt am 22. Juni über Rahel Jaeggis Buch »Fortschritt und Regression«.

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  • Leserbrief von Dieter Crusius aus Nürnberg (15. August 2024 um 15:17 Uhr)
    Der Artikel »Vernunft im Plural« von Marc Püschel lässt erahnen, dass durch die sogenannten postmodernen Theorien ein Scheunentor für Relativismus, Skeptizismus und Subjektivismus aufgestoßen wird. Ihr Geleiere von »Diskursen«, »Performation« und dergleichen trägt die idealistische Grundstimmung, die Welt auf den Kopf zu stellen. Vernunft im Plural, alternative Fakten und Fake News sind die Folge dessen.
    Leider finden diese Theorien gerade auch in der studentischen, akademischen »Linken« nicht wenig Zuspruch und sind damit Türöffner für die neoliberalen Ideen der herrschenden Klasse.
    Lenin hat in Materialismus und Empiriokritizismus (LW Band 14); praktisch im Voraus, schon einige gute Widerlegungen abgegeben. Erfrischend klar dazu auch die Schriften der Prolos/Nürnberg: »Gegen die neoliberalen Ideologien und Ideologisches Counterinsurgency«, die nicht nur den idealistischen Charakter dieser Ideologien herausarbeiten, sondern auch zeigen, dass die herrschende Klasse diese Theorien bewusst fördert, um Verwirrung zu stiften und somit konkret konterrevolutionär wirksam wird.
  • Leserbrief von Georg F. aus Heidelberg (15. August 2024 um 09:13 Uhr)
    Wie manche nicht wissen, was gleich welche philosophische Richtung ist, reden immer dann viele, wenn etwas in die neoliberale Kultur, in ad-design geht, schablonenhaft (»Relativismus«). Den Machttrick des Artikels nutzten die neuen Richtungen spätestens 1995, bis sie konservative Uni-Mehrheit wurden. Welsch wurde anfangs oft zitiert, und man »ließ uns ja nicht hochkommen«^^. Linke wurden fast komplett verdrängt. Das »Ende der großen Erzählungen« wurde in Szenen und später bis in rechte Strömungen erzählt, es wurde eine große Erzählung^^. Eine Sonja Margolina, aus tausenden, warnte 2005 in der SZ, nach der bösen »großen Erzählung des Kommunismus« drohe nun die große Erzählung vom Klimawandel. Lächerlich. Scharen von Studentinnen gingen mit »Ich bin nicht so monokausal wie Kant, mehr so verflüssigt so« spazieren; cool und machtvoll. Lyotard war später weniger einer der Götter, man wählte andere und nannte sich gern postmodern, wenn man gelobt wurde. Bei leisesten Fragen wehrte man sich laut gegen jede Zuschreibung – ob postmodern, post-strukturalistisch oder welche. (Lehrmeister des Rausölens, intelligent: Foucault, Derrida.) Empirische Ungleichheitsforschung wurde marginalisiert, aber das Ende der großen Erzählungen oder »die Virtualität des Schwetzinger Schlosses« erzählten die Dozentinnen in jedem Proseminar seit Jahrzehnten. In Szeneradios, im FR-Feuilleton seit 1997, in TAZ usw. redete man über wenig anderes. Kapitalistische Werbung sprang schnell auf, eine Fundgrube! Das langsame, nun völlige Verschwinden jeder wirklich linken Strömung war gelungen, als alle bis in Grüne und CDU sich »kulturlinks« fühlten. Den jetzigen zwischenzeitlichen Untergang übersehend, meint der Autor, etwas, was vor 30 Jahren die Auflösung von Widerstand mit einleitete, müsse ein tausendstes Mal debattiert werden. Wo sind Werner Seppmann, Losurdo? Oder, mag man Marxisten nicht, wär es besser, z. B. Susan Neiman zu lesen (»Moral clarity«). Sich endlich wieder linken Ideen zuwenden!

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