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Aus: Ausgabe vom 12.08.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Kalter Krieg

Diskursmacht HVA

Die Profis vom Verfassungsschutz: Michael Wala reitet gegen einen angeblichen »Stasi-Mythos« an
Von Leo Schwarz
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Alles unter Kontrolle: Durchsuchung des Hauses des Überläufers Hansjoachim Tiedge (Köln, 25.8.1985)

Beim deutschen Inlandsgeheimdienst arbeiten offenbar Leute, die sich daran stören, dass der Auslandsnachrichtendienst der DDR, die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit, in der einschlägigen Publizistik vergleichsweise gut wegkommt – zumindest in der Form, dass der HVA hohe fachliche Kompetenz und eine insgesamt erfolgreiche Arbeit nachgesagt werden. Der Historiker Michael Wala, dem der Verfassungsschutz die Akten der Spionageabwehr aus dem Zeitraum 1950 bis 1990 »exklusiv« zugänglich gemacht hat, schwingt sich nun aufs Pferd, um eine Attacke gegen diesen »Mythos« zu reiten. Und siehe da: Die richtigen Profis arbeiteten beim Verfassungsschutz, nicht bei der HVA. Die stand am Ende, meint Wala, nämlich vor einem »Scherbenhaufen«.

Nun liegt auf der Hand, dass man, wenn so ein »durch das Bundesinnenministerium unterstütztes Forschungsprojekt« auf eine Leistungsschau des deutsch-deutschen Nachrichtendienstgewerbes hinauslaufen soll, die Resultate der Arbeit der HVA in der Bundesrepublik mit den Ergebnissen der Spionage gegen die DDR vergleichen müsste. Zu letzteren gibt es wegen des fehlenden Zugangs zu den relevanten Unterlagen der fraglichen Dienste aber keinerlei systematische Forschung, zumal das sogenannte Stasiunterlagengesetz sogar Akten des MfS, die Angaben zu Akteuren und Methoden der geheimdienstlichen Arbeit gegen die DDR enthalten, zu Verschlusssachen erklärt hat.

Um derlei macht Wala aber einen Bogen. Er steigt mit dem kuriosen Befund ein, dass beim Thema Spionagegeschichte »die Verlierer den Diskurs beherrschen«. Ausgerechnet den ehemaligen MfS-Leuten – also einer Gruppe, die nach 1990 politisch und publizistisch maximal marginalisiert, ja als Akteur aus der öffentlichen Debatte verschwunden war – soll Erstaunliches gelungen sein: Mitarbeiter der HVA hätten nach 1990 den Mythos etabliert, der DDR-Auslandsgeheimdienst sei einer der besten der Welt gewesen.

Nun kann es ja sein, dass die Ex-HVAler dieser Ansicht waren – aber wesentlicher für das Gesamtbild ist doch wohl, dass sie damit nicht allein waren: Das war bislang nämlich ziemlich unisono das Urteil auch der sonstigen (zumal internationalen) Literatur zum Thema. Abgesehen davon ist die Vorstellung, die ganze Bundesrepublik sei erfolgreich »unterwandert« worden, final von der antikommunistischen »Aufarbeitungs«-Publizistik der 90er Jahre etabliert worden. Derlei allerdings beschäftigt Wala, dem es wichtig zu sein scheint, den Eindruck zu erwecken, er renne gegen ein von alten »Stasi-Leuten« höchstpersönlich errichtetes Lügengebäude an und sei dabei (zusammen mit dem »bisher kaum zu Wort« gekommenen Verfassungsschutz) der Underdog, nicht eine Sekunde lang.

Er will nach eigenem Bekunden einen »Realitätscheck« liefern. Man kann ihm zugestehen, dass er viele neue Fakten zusammenträgt, ohne ihm damit auch das Urteil abkaufen zu müssen, dass diese Informationen »den Mythos der DDR-Auslandsspionage sehr stark verblassen lassen«. Denn wirklich überraschend ist nichts davon: Weder, dass die bundesdeutsche Spionageabwehr zahlreiche »Werbungsversuche« erkannte, noch, dass es ihr gelang, viele Personen zu »überwerben« und als sogenannte Countermen gegen ihre Auftraggeber einzusetzen, ohne dass die davon erfuhren.

Dass es der bundesdeutschen Spionageabwehr immer wieder gelang, in erheblichem Umfang Quellen der HVA zu enttarnen und »riesige Löcher« in das angeblich über die Bundesrepublik geworfene »Netz« zu reißen, wird ebenfalls nur die verblüffen, die der Meinung waren, dass es ein solches »Netz« gab und der HVA alles gelang. Nur – wer hat das eigentlich so behauptet? Zumindest über die BRD-Spionageabwehr war die HVA jedenfalls ganz gut im Bilde. »Umfassender konnte man eigentlich nicht über die gegnerische Spionageabwehr informiert sein«, fasst Wala den Erkenntnisstand der HVA zusammen, als er die Auswirkungen des Übertritts des hochrangigen BfV-Mitarbeiters Hansjoachim Tiedge in die DDR (August 1985) und die durch den erst nach dem Ende der DDR enttarnten Klaus Kuron beschafften Informationen behandelt.

Dennoch verliert sich das Buch in einer unangenehmen Triumphzugrhetorik, als Wala auf die »erstaunlich vielen« MfS-Mitarbeiter zu sprechen kommt, die ab 1989/90 ihr Wissen im Westen anboten: Mit »Kehraus« ist das entsprechende Kapitel überschrieben. 177 HVA-Mitarbeiter hätten sich bereits bis zum Herbst 1990 »angedient«. Ein genuiner »Erfolg« des Verfassungsschutzes war das aber wohl kaum: Es sei denn, man bucht auch den Zusammenbruch der DDR auf dessen Konto.

Michael Wala: Der Stasi-Mythos. DDR-Auslandsspionage und der Verfassungsschutz. Ch. Links, Berlin 2023, 352 Seiten, 25 Euro

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