Bornheim, Fünfundzwanzig, Wetter mild
Von Jürgen RothWarum Ror Wolf, einer der drei bedeutendsten deutschen Dichter seit 1945, der füglich in eine Reihe mit Beckett, Robert Walser und Kafka gestellt wird, den Büchner-Preis nicht verliehen bekam, ist ein Rätsel – oder auch nicht, sofern man sich ein wenig im korrupten, byzantinischen Literaturbetrieb auskennt.
Ich habe den großen Frankfurter Anglisten Klaus Reichert, der neben vielem anderen Shakespeare, Joyce und das »Das Hohelied Salomos« übersetzt hat, mal gefragt, wieso Ror Wolf bei der Wahl seit Jahren übergangen werde. Reichert, der damals Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung war, sagte sinngemäß: »Herr Roth, ich probiere es immer wieder. Aber Sie wissen doch, wie es läuft. In der Jury sitzen zwei Neider, zwei Stinkstiefel, und ohne deren Stimmen geht es nicht.«
Seit 2020 ist es zu spät. Im Februar des Jahres verstarb Ror Wolf siebenundachtzigjährig in seiner Wahlheimat Mainz.
Von Wolfs einzigartigen Romanen und seinen ebenso unverwechselbaren Erzählungen soll hier nicht die Rede sein, sondern dem Anlass gemäß selbstverständlich vom »Fußballdichter« Ror Wolf. Den Titel, den er nicht sehr schätzte, trug er zu Recht. Er war der erste, er war der Pionier, der dieses Sportspiel gleich einem Ethnologen betrachtete, vielleicht gar untersuchte, und dessen »mythische Potenz«, wie der Germanist und Lyriker Christian Maintz schreibt, offenlegte.
In den 70er Jahren scherte sich kein einziger Literat um den Fußball. Der Fußball galt unter Intellektuellen als grobes, proletarisches, schmutziges und geistloses Freizeitvergnügen. Wolf hingegen merkte, dass sich auf den Plätzen, in den Stadien, in den Vereinsheimen und im Sportradio Enormes zutrug.
Ihn hat der Fußball angeregt, berührt, jener Fußball, den er atmosphärisch zum ersten Mal erspürt hatte, als er 1953 aus der DDR ausgereist und alsbald zufällig in Nürnberg am Städtischen Stadion vorbeigekommen war, und den er dann ab Mitte der 60er Jahre konservierte und nobilitierte, indem er aus all dem semantischen und sprechaktrituellen Schrott in katastrophaler Fron, »festgepappt unter Kopfhörern« (Wolf), Mosaike der Weltverwirrung, der (durchaus erotischen) Attraktion, der komischen Konfusion, der Trivialitätstumulte und der schönen Fügung komponierte, sich auch filmischer Verfahren bedienend und die knackenden und reibenden und knirschenden und kantigen Verben liebend.
Zu den kanonisierten Mirakeln seiner Radioartistik der 70er Jahre, den oft gerühmten O-Tonhörspielen »Schwierigkeiten beim Umschalten«, »Merkwürdige Entscheidungen«, »Der Ball ist rund« und »Cordoba, Juni 13 Uhr 45«, möchte ich hier nichts annotieren, ich habe das wiederholt und ausführlich getan. Noch inniger, ja zärtlich zugeneigt bin ich den Stimmenbildern »Die alten Zeiten sind vorbei, Expertengespräche« und »Heinz, wie ist deine Ansicht?«
Wer den Fußball liebt (oder geliebt hat), weiß, warum. Doch kaum jemand weiß, welche Rolle der Bornheimer Hang in ihnen spielt.
Wolf lebte Anfang der 70er Jahre in einem der beiden Hochhäuser neben dem Panoramabad. Von dort oben stieg er mit der Nagra, einem unfassbar schweren Tonbandgerät, hinunter zum Trainingsgelände der Eintracht oder zum Stadion des FSV. Ebenda hielt er das Mikrophon zwischen die Kiebitze, die wahren Fachmänner, und schnitt mit, Stunden über Stunden. Kein anderer Dichter wäre je auf die Idee verfallen, die Sprache der kleinen Leute zum Material für Kunstwerke zu erkiesen.
Wer die drei genannten Stücke bedachtsam hört, erhascht Wortfolgen und Satzfetzen, die unzweifelhaft von Anhängern des FSV stammen. Und weil Ror Wolf seinen beinahe unüberschaubaren Fundus an O-Tönen (ich besitze einen Großteil davon) nicht nur für Radioproduktionen plünderte, entstanden zudem Collagentexte, die sich in seinem Sammelband »Das nächste Spiel ist immer das schwerste« finden.
Unter ihnen: die gut dreiseitige Komposition »Unsere schwarzblauen Freunde vom Bornheimer Hang«.
Vorangestellt ist folgendes Motto, gesetzt wie ein Gedicht: »Sechs Bier. / Sechs Stück? / Ja. Sechs Stück.« Daneben ein Foto von drei Männern in Anzügen, zwei tragen Hüte, zu ihren Füßen ungefähr zwanzig geleerte Bierbüchsen. Und dann wird losgebabbelt:
»Ich weiß nichts, also Moment, ich persönlich hab ja fast dreißig Jahre gespielt, das ist eine gewisse Zeit, dreißig Jahre, ganz original, Verletzungen mitgezählt undsoweiter, und dann, durch mein Temperament, wie gesagt, war ich auch mehrmals gesperrt, das ist klar, das ist Temperamentssache, und manchen würde es guttun, mal zu pausieren, vier, acht Wochen direkt abschalten vom Fußball, das tut weh, wie gesagt, wenn einer mit Herz und Seele dabei ist, aber – ganz langsam Kinners … rechts naus, ganz links … zu steil Hermann, geh! … jawoll und das wars schon – der hat jetzt den Schnurrbart ab, und schon hat er wieder sein Goal gemacht; wir tun ja Donnerstag abends Bowling machen, nicht wahr, der Trimhold Horst sowie der Klaus und der Klebs Hermann, wir vier« –
– und spätestens hier schnallt der Kundige: Aha! Horst »Schotte« Trimhold – der am 9. Juli 1972 in Neuwied im Endspiel um die Deutsche Amateurmeisterschaft in der 90. Minute das 2:1 erzielt hatte – und Hermann Klebs waren in den 70er Jahren Stammkräfte, Stützen des Kaders, und gleich darauf taucht als weiterer Bowlingkamerad ein gewisser Wagner auf, das muss Herbert Wagner sein, ebenfalls ein Finalist.
Ror Wolf tranchiert sein Ausgangsmaterial, zerlegt es in unzählige Einzelteile, mit denen er anschließend experimentiert. Er sucht ungewöhnliche Anordnungen, dito in sich widersprüchliche Konstellationen, er zersplittert und rafft, und trotzdem verströmen diese Artefakte die Aura der Wirklichkeitstreue, zumal durch ihre phonetische Genauigkeit: »los abziehen, Hermann … und raus jetzt, jawohl – er hat mir gesagt, vor dem Spiel, er hat Schmerzen im rechten Fuß – und schauen, Hermann … und gucken links gucken … und abziehen Klaus … und flach ab jawoll – also für dreitausend Zuschauer ist das ein bisschen wenig besetzt heute, trotzdem, ich bin überrascht, dass noch so viele Leute da sind, denn die Meisterschaft ist doch entschieden, die Kickers, na ja, die versuchen hier irgendwie, aber wie ich gesagt habe, ich meine, es läuft wies normal ist, es geht um nix mehr, man kann auch nicht sagen: Sommerfußball, denn die kämpfen, die Männer, das sieht man (…) – die Meisterschaft ist unter Dach und Fach, da stehn noch vier Mann, nein, fünf Mann stehen da, da is nix zu machen, jetzt lacht er schon wieder, haha, der Herbert, das ist halt der größte Kämpfer vom Hang.«
Der Mitschnitt müsste im Sommer 1972 entstanden sein (»wir ham ja die Meisterschaft in der Tasche«). Allerdings findet sich in den Datenbanken für jene Zeit keine offizielle Partie gegen Offenbach. War’s ein Freundschaftsspiel?
Immerhin erfahren wir, dass das OFC-Idol Hermann Nuber, der seine Karriere 1971 beendet hatte, auf der Bank sitzt: »ich meine, es ist halt ein Heimspiel, gell, momentan, und genau das isses, und sehnse: der Wagner wieder, der alte Kämpfer, der Wagner, jetzt greift er sich an den Kopf – Abseits, meine Herren, meines Erachtens – es geht ja um nix mehr, und trotzdem wars Abseits, dort sitzt auch der Nuber, das ist schon ein alter Mann, auf deutsch gesagt, der Nuber, ganz rechts: Hermann Nuber, da sitzt er, auf der Reservebank beziehungsweise Betreuerbank, sagt man, auf der Betreuerbank, wir sind gute Bekannte, nicht nur im Fußball.«
Oder war’s doch am 1. März 1970, eine Pflichtbegegnung in der Regionalliga Süd? 5:1 für Offenbach, und zwar auf dem Bieberer Berg? Dann wär’s für die Schwarzblauen kein Heimspiel gewesen, und Sommerfußball Anfang März ist schwer vorstellbar, und abgestiegen war der FSV zu dem Zeitpunkt noch nicht, es ging demnach um viel.
Das alles bleibt also vorerst im dunkeln, obwohl für meine Version eine kurze Tirade gegen Ende des Textes spricht: »die Kickers, die stelln sich da hin und mauern, die ham doch nur hinten gestanden mit acht, neun Mann und ham alles nausgebläut rechts und links, was gekommen is, weil: wenn die mitspielen, kriegen sie doch nur die Hosen voll, dann geschehn auch die Dinge«, welche Dinge auch immer, vermutlich: die Dinger (Tore).
Oder Ror Wolf hat diese Prosapretiose, in der en passant der aus alten Chroniken bekannte »dicke Fritz« einen Auftritt bekommt (»da legt der dicke Fritz die Bratwürschte uff, damit se schön warm wern«) und mit der sich der FSV schmücken darf und soll (mir ist kein anderer Verein geläufig, dem solch herzerwärmende Dichterworte zuteil geworden sind, ausgenommen vielleicht die Eintracht, der Eckhard Henscheid, ein Freund von Ror Wolf, die »Hymne auf Bum Kun Cha« kredenzte) – oder Wolf hat »Unsere schwarzblauen Freunde vom Bornheimer Hang« aus Aufnahmen von verschiedenen Stadionbesuchen montiert, seiner schriftstellerischen Technik entspräche es sehr wohl.
Ein zweiter Werkbereich zum Thema Fußball bei Ror Wolf sind die Gedichte. Drei Komplexe hat er geschaffen: die »13 WM-Moritaten 1930–1986«, die »12 Rammer-&-Brecher-Sonette« und die »15 Deutschen Endspielstanzen mit vorwiegend männlichem Ausgang«.
Die Obertitel zeigen es an: Hier regiert die äußerste Formstrenge, die Versmaße und die Reimschemata werden penibel eingehalten. Wolf vermählt die Tradition mit der Moderne, und er »erneuert mit seiner Fußballdichtung ein altemphatisches Kunstprogramm via Komik« (Christian Maintz).
In der Serie der Endspielstanzen ist nun unzweideutig ein Match identifizierbar, der Achtzeiler heißt ja so: »1925 1. FC Nürnberg – FSV Frankfurt (1:0)«. (Ein paar filmische Impressionen sind übrigens erhalten und auf Youtube zu finden.)
In der Chronik »Unser Verein stellt sich vor – 80 Jahre Fußballsportverein Frankfurt 1899« schreibt der langjährige Rundschau-Sportredakteur und nachmalige DFB-Pressesprecher Harald Stenger, die Fans des FSV seien nach dem 3:1 im Halbfinale gegen Hertha BSC Berlin (ausgerechnet in Fürth!) zwei Wochen lang in einer Art Fieberzustand gewesen – »bis am 7. Juni im kurz zuvor eröffneten Waldstadion das Endspiel steigt. Der Kontrahent ist – wie konnte es anders sein – die damals beste deutsche Mannschaft: der 1. FC Nürnberg«, das Stadion habe einem »Hexenkessel« geglichen.
Ich zitiere weiter: »Die beiden Abwehrstrategen sind die beiden überragenden Spielerpersönlichkeiten auf dem Platz: Pache bei Frankfurt und Kalb bei Nürnberg. So kommt es, dass trotz zahlreicher guter Möglichkeiten bis zur Pause kein Tor fällt, wobei der spielerisch vorzügliche Club leichte Vorteile gegenüber den kampfstarken ›Bernemern‹ herausarbeitet. Um so größer ist die Enttäuschung, als bald nach dem Wechsel der Nürnberger Kapitän Riegel mit einem Foulelfmeter an FSV-Torhüter Koch scheitert. Die reguläre Spielzeit bringt keine Entscheidung, in der Pause zur Verlängerung überlegen die ›Schwarzblauen‹, allen voran der wieder reaktivierte Vorsitzende Willy Jeßler und sein als Arzt stadtbekannter Nachfolger Dr. David Rothschild, ob es zu verantworten ist, dass die Mannschaft bei diesen Temperaturen weiterspielt. Doch eine Aufgabe wird von den Spielern abgelehnt, der Kampf auf Biegen und Brechen geht unter dem lautstarken Getöse des Publikums weiter. Die Entscheidung fällt schließlich in der 108. Minute: Kalb legt den Ball für Nieder (sic!) vor, der umspielt die gegnerische Abwehr mit einem raffinierten Solo, sein knallharter Schuß ins rechte Toreck ist unhaltbar. (…) Bis in die heutige Zeit ist dieser Tag der größte in der nunmehr achtzigjährigen Vereinsgeschichte des FSV geblieben.«
All das kann man komprimieren, verdichten, und dafür muss man Ror Wolf (gewesen) sein. Er hat diesem Tag ein »Denkmal in Versen« (Christian Maintz) gesetzt, er hat ihm ein feierliches Lied gewidmet, und ich plädierte ja stark dafür, dass jeder, der dem FSV beitreten will, im Sinne einer Eignungsprüfung das Gedicht aus dem Gedächtnis fehlerfrei aufsagen können muss, andernfalls wird er abgewiesen:
*
Popp, Riegel, Kugler, Kalb, Träg, Hochgesang,
mein Herr, betrachten Sie jetzt dieses Bild:
Hans Sutor hält in seinem Überschwang,
Sie sehen es, die Hand ans Mützenschild,
mein Herr, nach der Verlängerung am Hang
in Bornheim, Fünfundzwanzig, Wetter mild.
*
Am Schluss war Ludwig Wieder der Erlöser.
Der Sportverein war groß. Der Club war größer.
*
Wenn Harald Stenger aus dem Herrn Wieder einen Herrn Nieder bastelt, darf erst recht der Dichter aus dem Waldstadion den Bornheimer Hang und aus einem brütend heißen einen milden Tag machen.
2005 beauftragte mich Ror Wolf, anlässlich der WM im folgenden Jahr eine CD-Gesamtausgabe seiner Fußballhörspiele einzurichten. Und er wollte, dass wir zusammen ein letztes, ein elftes schreiben: »Das langsame Erschlaffen der Kräfte – Ein Fußballhörstück in 6 Kapiteln«. Es wurde dann im März 2006 im Bayerischen Rundfunk urgesendet (nach wie vor abrufbar im »Hörspiel Pool« des BR).
Einer der Sprecher ist – neben Manni Breuckmann, Christian »The Voice« Brückner und Rudi Michel – Günther Koch, die »Stimme Frankens«, jener Radioreporter, den Ror Wolf für den Unerreichten dieser Zunft hielt. Und Koch rezitiert ziemlich exakt in der Mitte des »Langsamen Erschlaffens« ebenjene Stanze.
Es sei Ror Wolf und mir seitens der FSV-Getreuen verziehen. Und womöglich findet sich ein Fanklub, der mal ein Banner malt, auf dem die besagten »vollkommenen« (Kay Sokolowsky) Verse den Scharen am Hang präsentiert werden.
Ror Wolf wäre glücklich.
Jürgen Roth, Jahrgang 1968, ist Schriftsteller und Sprachwissenschaftler. Er ist regelmäßiger Autor des jW-Feuilletons und einziger Träger der jW-Ehrennadel für hervorragende Sportberichterstattung. Roth war mit Ror Wolf befreundet.
Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 23./24. März 2024 »It’s about motherfuckin’, cocksuckin’ money« über das 25. Jubiläum der TV-Serie »Die Sopranos«
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