»Die Richter stehen auf der Seite der wirtschaftlichen Macht«
Interview: Frederic Schnatterer, Buenos AiresBeginnen wir das Gespräch mit dem am 7. Dezember 2022 abgesetzten peruanischen Präsidenten Pedro Castillo. Sie sind seine internationalen Verteidiger. Wie ist die Lage des Expräsidenten, der mittlerweile seit mehr als anderthalb Jahren in Haft sitzt?
Guido Croxatto: Castillo sitzt in Präventivhaft. Das ist verfassungswidrig, Willkür. Keine der Voraussetzungen dafür, ihn zu inhaftieren, waren erfüllt. Auch die Amtsenthebung zuvor war nicht verfassungskonform. Das bedeutet im Endeffekt, dass der legitime und demokratisch gewählte Staatschef Perus unrechtmäßig festgehalten wird.
Was außerdem dramatisch ist: Die internationalen Gremien, die letztendlich über den Fall entscheiden werden, brauchen viel zu lange dafür. Dahinter steckt System. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, OAS, Luis Almagro, bezeichnete beispielsweise vor kurzem den Tod von 15 Personen nach den Wahlen in Venezuela als ein Blutbad. Über die mehr als 60 Indigenen, die während der Proteste gegen die Absetzung Castillos in Peru getötet wurden, hat er indes kein Wort verloren. Mit anderen Worten: Die internationale Justiz misst mit zweierlei Maß, wenn es um den Umgang mit Krisen des demokratischen Systems geht.
Raúl Zaffaroni: Castillo wird offiziell Rebellion vorgeworfen. Allerdings hat er dieses Verbrechen nie begangen. Castillo hat eine Rede im Parlament gehalten, die man im schlimmsten Fall als einen »untauglichen Versuch« (tentativa inidónea, jW) interpretieren könnte. Niemand hat jemals eine Waffe in die Hand genommen – nach dem peruanischen Gesetzbuch die Voraussetzung für Rebellion. Selbst wenn Castillo versucht haben sollte, zur Rebellion anzustiften, wäre das nicht strafbar.
Das, was Sie beschreiben, lässt am Justizsystem in Peru zweifeln. Welche Rolle können Sie als Anwälte Castillos in einem solchen Umfeld überhaupt spielen?
G.C.: Uns als internationalen Anwälten Castillos werden nicht einmal die minimalsten Garantien zugesichert. Von Beginn an wurde nicht ausreichend für unsere Sicherheit gesorgt, so dass wir nicht mit unserem Mandanten beraten oder uns mit ihm unterhalten konnten. Das wäre das Mindeste. Später untersagte es die Gefängnisbehörde INPE ausländischen Anwälten sogar ganz, Gefangene in peruanischen Haftanstalten zu besuchen. Das lässt schon daran zweifeln, ob man von der peruanischen Justiz überhaupt etwas erwarten kann …
R.Z.: Ich erwarte nichts von der peruanischen Justiz. Ich würde sagen, auch Castillo erwartet sich nur sehr wenig von der peruanischen Justiz.
Lassen Sie uns das größere Bild in den Blick nehmen. Manche sehen den Fall Castillo als einen unter vielen in Lateinamerika. Für das Vorgehen gegen den peruanischen Präsidenten nutzen sie den Begriff »Lawfare«. Was genau ist damit gemeint?
R.Z.:
Zunächst meint der Begriff die politische Verfolgung durch Richter. Dabei spielen die Massenmedien eine wichtige Rolle, sie manipulieren die Wahrnehmung einzelner Politiker durch die Bevölkerung. Das heißt, zunächst werden sie durch die Medien stigmatisiert, dann kommen die Richter zum Einsatz..
Was Sie da sagen, scheint mir interessant. Manche gehen in ihrer Definition nämlich davon aus, dass Lawfare nur gegen progressive Politiker eingesetzt wird.
R.Z.: Ich würde sagen, es gibt da durchaus Nuancen. Lawfare richtet sich zunächst einmal gegen diejenigen, die eine reale Chance haben, an die Macht zu kommen. Die Frage, ob nun Trump oder die Demokraten in den USA fortschrittlicher sind, spielt erstmal keine große Rolle.
G.C.: Ich würde hinzufügen, dass das Justizsystem in unseren Demokratien sehr konservativ geprägt ist. Meiner Meinung kann man davon sprechen, dass Richter immer öfter wie Aktivisten agieren. Sie beschneiden Rechte, statt sie zu verteidigen.
Das liegt auch daran, dass sie einer bestimmten Gesellschaftsschicht angehören. Historisch gesehen handelt es sich um eine in sich geschlossene Bürokratie, die mit den mächtigen Wirtschaftskreisen verbunden ist. Entsprechend setzen sich die Richter meist gegen fortschrittliche Politiker ein, deren Politik den Interessen der großen transnationalen Konzerne gefährlich werden könnte. Das zeigt der Fall von Expräsident Rafael Correa in Ecuador, der zahlreiche Ressourcen verstaatlichen ließ. Castillo ist ein weiteres Beispiel, auch er wollte die Rohstoffe des Landes verstaatlichen. Ich könnte noch viel mehr Beispiele anführen.
Die Kaviarlinke, wie sie in Peru genannt wird, hat bezüglich Castillo einen unverzeihlichen Fehler gemacht. So zum Beispiel der brasilianische Präsident Lula. Er hat zur Absetzung von Castillo keine klare Haltung eingenommen. Der chilenische Präsident Boric machte sich lächerlich, indem er sich schon früh mit der heutigen De-facto-Präsidentin Boluarte fotografieren ließ. Teile der Linken haben die Situation in Peru völlig falsch eingeschätzt.
Woran liegt das? Lula beispielsweise kennt das Phänomen des Lawfare ja selbst aus eigener Erfahrung nur zu gut.
G.C.: Ich glaube, dass der Grund dafür im Rassismus liegt, den es natürlich auch in der Linken gibt. Wäre Castillo ein in Frankreich ausgebildeter linker Präsident gewesen, wären die Reaktionen wohl anders ausgefallen. Und wenn die mehr als 60 Protestierenden, die in Peru getötet wurden, aus den Nobelvierteln von Lima gekommen wären, wäre auch hier die Reaktion eine andere gewesen. Es waren aber Indigene aus dem Süden und aus dem Hochland. Auch Castillo war nur ein einfacher Grundschullehrer.
Welche Rolle kommt in solchen Fällen den Institutionen des internationalen Rechtssystems zu?
R.Z.: Der Fall Castillo zeigt, wie unfähig das interamerikanische Justizsystem ist. Ein weiterer Fall, der das zeigt, ist der von Alberto Fujimori (regierte Peru von 1990 bis 2000 diktatorisch, jW). Fujimori wurde rechtskräftig wegen Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt, die während seiner Amtszeit begangen wurden. Heute ist er nicht nur ein freier Mann, sondern will sogar erneut Präsident des Landes werden. Und das interamerikanische Justizsystem tut nichts dagegen. Wie gesagt, es ist mindestens unfähig.
Ein anderes Beispiel ist der Überfall durch ecuadorianische Einsatzkräfte auf die mexikanische Botschaft in Quito im April (Ziel war die Verhaftung des ehemaligen Vizepräsidenten von Rafael Correa, Jorge Glas, dem die ecuadorianische Staatsanwaltschaft Korruption vorwirft und der in der Botschaft um politisches Asyl ansuchte, jW). Das war ein eklatanter Bruch des Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen. Die internationalen Reaktionen darauf ließen mindestens zu wünschen übrig.
Hat es so etwas zuvor schon einmal gegeben?
R.Z.: Eine derartige Missachtung des Rechts auf diplomatisches Asyl ist in Lateinamerika beispiellos. Nicht einmal während der Pinochet-Diktatur in Chile (1973–1990) wurde das Recht auf Asyl ignoriert, ebensowenig bei uns während der Diktatur in Argentinien (1976–1983). Ich konnte das damals persönlich beobachten. Ich war mit einem italienischen Exsenator in Santiago de Chile unterwegs, und wir fuhren zur italienischen Botschaft. Der ganze Botschaftsgarten war voller Zelte von Leuten, die sich dort hin geflüchtet hatten. Pinochet gewährte ihnen sicheres Geleit und respektierte ihr Recht auf politisches Asyl.
Die Ecuadorianer allerdings haben jüngst geurteilt, dass das Recht ihres Landes über dem internationalen Recht stehe. Und da Glas laut dem nationalen Recht angeklagt ist und ein Durchsuchungsbefehl vorgelegen habe, sei der Überfall legal. Das ist natürlich unglaublicher Unsinn und völlig unhaltbar. Dass ein Gericht sagt, es verzichte auf die Ausübung des internationalen Rechts, da dafür die internationalen Organe zuständig sind, ist unglaublich.
Sind die Bedingungen für Lawfare bereits in den lateinamerikanischen Justizsystemen enthalten?
R.Z.: Ich glaube nicht, dass es so etwas wie einen bereits im Justizsystem angelegten Rassismus gibt. Aber es gibt im Justizsystem Voraussetzungen, die einen solchen begünstigen. Ein Grund dafür liegt, wie schon zuvor angemerkt, in der sozialen Herkunft der zuständigen Richter. Es handelt sich also um eine Klassenfrage. Das ist in Peru deutlich sichtbar: Es gibt riesige Unterschiede, ja Rassismus, zwischen Menschen von der Küste und dem Hochland. Peru ist historisch gesehen extrem elitär geprägt. Das ist nicht neu.
G.C.: Meiner Meinung nach existiert heute eine Krise der Gewaltenteilung. Der Entwurf der Moderne, der der Gewaltenteilung zugrunde liegt, geht davon aus, dass sich die Gewalten gegenseitig kontrollieren, was zu einem Ausgleich führt. Ich glaube allerdings nicht, dass das funktioniert. Heute konkurrieren die einzelnen Gewalten vielmehr darum, sich in der öffentlichen Agenda durchzusetzen.
Eine der Folgen davon kann eine Verrechtlichung der Politik sein, wie beim Lawfare. Ich glaube jedoch nicht, dass das immer in der Verantwortung der Richter liegt. Die Institutionen, die eigentlich dafür vorgesehen wären, sind nicht mehr in der Lage, politische Antworten auf die Forderungen der Bürger zu geben.
Ist das in ganz Lateinamerika so?
R.Z.: Ich würde sagen, dass eine gewisse Tendenz zur Bequemlichkeit innerhalb des bürokratischen Apparats zu beobachten ist. Sie agieren nach dem Prinzip: Stören Sie mich nicht. Bringen Sie meinen Posten nicht in Gefahr.
Darüber hinaus stellt sich die Situation in jedem Land anders dar. Sie hängt auch davon ab, wie die Medienlandschaft dort aussieht, beispielsweise ob es Monopole oder Oligopole gibt. Oder aber, wie das System der Trolls in den sozialen Medien funktioniert. In Argentinien funktioniert letzteres einzigartig effizient.
G.C.: Das ist sozusagen die soziologische Lesart, die der Klassenzusammensetzung des Justizwesens. Aus dem Grund stehen die Richter eher auf der Seite der konzentrierten wirtschaftlichen Macht. Deshalb richtet sich Lawfare generell gegen fortschrittliche Politiker, die Maßnahmen ergreifen, die im Interesse des Volkes sind und damit automatisch den Wirtschaftsinteressen der großen Konzerne zuwiderlaufen.
Außerdem sind diese Wirtschaftseliten in der Lage, Richter zu bestechen – was sie auch zur Genüge tun. Ein gutes Beispiel dafür ist der ganze Odebrecht-Skandal (Korruptionsskandal rund um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht, jW). Überall wurden Richter und Staatsangestellte bestochen. Castillo war einer der wenigen Politiker, die nicht in dem Skandal mit drin hingen. Aus dem einfachen Grund, dass er als krasser Außenseiter ins Präsidentenamt gewählt wurde. Deshalb war Castillo auch der einzige, der nicht versuchte, die Ermittlungen gegen Odebrecht zu behindern. Selbst die Richter, die gegen ihn ermitteln, sind der Korruption angeklagt.
Um es einfach auszudrücken: Wirtschaftliche Interessen spielen im politischen Leben unserer Länder eine Rolle.
G.C.: Die Richter spielen mit denjenigen, gegen die sie eigentlich ermitteln sollen, Golf. Es ist kein Zufall, dass die Gefängnisse voll mit armen Menschen sind. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist eine Illusion und unparteiische Richter ebenso. Wenn du arm bist, kommst du in den Knast. Wenn du reich bist, passiert dir nichts, selbst wenn du ein schweres Verbrechen begehst.
Nun sitzen wir hier in Buenos Aires, in Argentinien. Wie steht es um das Verhältnis der noch relativ jungen Regierung von Javier Milei zur Rechtsstaatlichkeit?
R.Z.: In der gesamten Region ist zu beobachten, dass die Rechtsstaatlichkeit einen immer schwereren Stand hat. Manche sprechen gar davon, dass wir uns in Richtung Polizeistaat bewegen. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Die Modelle des Polizeistaats sind immer mit sehr starker politischer Führung verbunden, die es ihren Untergebenen im Polizeiapparat und so weiter erlaubt, kleinere eigene Geschäfte zu machen. Immer solange dadurch nicht die Ziele der Führung in Gefahr gebracht werden.
Das trifft auf Argentinien nicht zu. Wir haben keine starke Führung. Ein Beleg dafür ist, wie einfach du hier vom Präsidentenamt ins Gefängnis wandern kannst.
Aber es gibt ja durchaus Berichte über sich verschärfende Polizeigewalt, Repression und Schikane unter der Milei-Regierung …
R.Z.: In Argentinien agiert die Polizei immer autonomer und beginnt, eigenständig strafende Gewalt auszuüben. Dazu gehören willkürliche Verhaftungen, Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, Folter und so weiter. So entsteht eine gewisse Symbiose zwischen der Polizei und den illegalisierten Formen des Handels, sei es mit Drogen oder anderem. Diese kriminellen Strukturen üben wiederum selbst Gewalt aus, die sich außerhalb der vom Staat vorgegebenen Regeln bewegt.
In manchen Ländern, vor allem in jenen, in denen dieser Prozess bereits weiter fortgeschritten ist, entstehen zudem noch Selbstschutzgruppen, parapolizeiliche Brigaden oder ähnliches. Das ist ein klares Indiz dafür, wie der Staat sein Monopol auf Ausübung von strafender Gewalt verliert. Ebenso verliert er das Monopol auf die Erhebung von Steuern. Das heißt: Unsere Staaten werden nicht stärker, sondern schwächer. Weniger Staat bedeutet leichtere Beute für das Finanzkapital.
Was müsste getan werden, um dem entgegenzusteuern?
R.Z.: Es mag keine sonderlich populäre Forderung sein, insbesondere unter Linken. Aber ich bin der Überzeugung, dass die erste Maßnahme eine Stärkung der Polizei sein muss. Damit meine ich ihre Aufwertung: Die Einsatzkräfte müssen gerecht bezahlt werden, statt ihnen implizit zu sagen, sie sollen schauen, woher sie ihr Geld bekommen. Ein guter Polizeibeamter sollte genauso gut bezahlt werden wie ein Richter. Sie müssen als Arbeiter anerkannt werden, mit dem Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Natürlich immer von der Grundannahme ausgehend, dass es keinen Staat ohne Polizeiapparat geben kann.
Heute sehen wir, wie der Polizeiapparat zerstört wird, wie der Staat geschwächt wird, bis er verkümmert. Polizisten haben freie Hand, zu machen, was sie wollen. Die Regierenden hingegen fahren eine Nulltoleranzpolitik und setzen auf Masseninhaftierungen. In Argentinien sind wir zwar noch nicht ganz so weit, aber wir befinden uns auf dem Weg dorthin. Andere Länder der Region sind bereits dort angekommen. El Salvador zum Beispiel. Oder Ecuador.
G.C.: Auch eine völlig unterbezahlte Polizei nimmt ja die Aufgabe wahr, soziale Kontrolle auszuüben. Das einzige, was sich ändert, ist der Geldgeber. Denn überleben müssen die Polizisten ja irgendwie. Das Problem daran ist, dass sie dann nicht mehr von den dafür vorgesehenen Institutionen befehligt werden, sondern von anderen Akteuren. Und das ist gefährlich, da sie so Einflüssen ausgesetzt ist, die erst mal nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun haben.
Guido Croxatto studierte Jura und Philosophie an der Universidad de Buenos Aires und der Freien Universität Berlin. Heute arbeitet er als Menschenrechtsanwalt in Argentinien.
Eugenio Raúl Zaffaroni ist emeritierter Professor der Universidad de Buenos Aires. Von 2003 bis 2014 war er Richter am Obersten Gericht Argentiniens, von 2016 bis 2022 arbeitete er am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.
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