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Aus: Ausgabe vom 24.08.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Konsolidierte Erinnerung

Von Arnold Schölzel
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Am 23. August vor 85. Jahren wurde der Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion unterzeichnet. Das Datum ist seit 2009 in der EU »Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus«. Seine Voraussetzung ist, nicht des Münchner Abkommens vom September 1938 zu gedenken. Darin hatten die Westmächte nicht nur die Tschechoslowakei Hitler zum Fraß vorgeworfen, sondern faktisch auch grünes Licht für den Krieg gegen die Sowjetunion gegeben. Seit 1939 gilt jedenfalls »rot gleich braun«, aber nicht seit 1938 Nazideutschland gleich Großbritannien und Frankreich.

Nun wächst in Zeiten der Kriegstüchtigkeit der Bedarf an solchen Gleichsetzungen. Am Freitag war daher in der FAZ ein Text des Kulturwissenschaftlers und Historikers Felix Ackermann unter der Überschrift zu lesen: »Stockholm liegt in Ostdeutschland. Der Hitler-Stalin-Pakt teilt Europa bis heute. Während im östlichen Europa die politische Agenda von den Lehren aus ihm geprägt sind, haben die Ostdeutschen die Folgen sowjetischer Besatzungsgewalt verdrängt.«

Die These, dass der Vertrag vom 23. August 1939 bis heute wirkt, verlangt Urheberforschung. FAZ und Ackermann (geb. 1978), der wohl im östlichen Berlin-Mitte zur Schule ging, sind fündig geworden: »die« Ostdeutschen. Denn ihnen fehlt was zum Menschsein. Ackermann startet seine Beweiskette mit dem Satz, dass »die vom Hitler-Stalin-Pakt betroffenen Gesellschaften« anders als die Bundesrepublik 2014 verstanden hätten, »dass die russische Annexion der Krim den Beginn der Zerstörung der europäischen Nachkriegsordnung markierte«. Und: »Ein wichtiger Grund für die Fehleinschätzung in Berlin war, dass die ostdeutsche Gesellschaft bis heute in einer Art Stockholm-Syndrom verharrt. Es gibt weder in Leipzig noch in Schwerin oder Berlin eine gesellschaftlich konsolidierte Erinnerung an die Repressionen, die nach der Kapitulation der Wehrmacht in der sowjetisch besetzten Zone von sowjetischen Soldaten und Geheimdienstangehörigen ausging.« Die SBZ-Geiseln haben dabei, so Ackermann, zu ihren Geiselnehmern eine Neigung statt Abneigung gefasst. Ackermann hat auch einen Beleg: Das Wort »Filtrationslager« löse »in den 1990 beigetretenen Bundesländern kaum eine Regung aus«, während es »im besetzten Osten der Ukraine für die systematische Verfolgung von Ukrainern« stehe. Der Grund: »Über die Gewalt der sowjetischen Besatzungspolitik wurde in vielen ostdeutschen Familien ebensowenig gesprochen wie über die deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion.« So war das in der Zone.

Ackermann muss eine schlimme, stumme Kindheit und Jugend hinter sich haben, dennoch enthält er sich pauschaler oder gar rassistischer Urteile über die psychischen Monster, von denen er umstellt war. Er hält fest, sozusagen auf dem Niveau fortgeschrittener Küchensozialpsychologie: »Wer sich trotz vier Jahrzehnten Besatzungsregime nicht als Opfer der Sowjetunion verstanden hatte, empfindet kaum Empathie mit den heutigen Opfern postsowjetischer Gewalt.« Denn das ist die Lage: Der »Hitler-Stalin-Pakt« teilt immer noch Europa, und im Osten wüten die »Postbolschewiken«. Und an ihrer Seite stehen die Ossis: »Typisch für das ostdeutsche Stockholm-Syndrom ist, ­wider besseres Wissen das Nachwirken der systematischen Gewalt sowjetischer Herrschaft zu leugnen.« Das komme heute »im wiederholten Ruf nach einer Verhandlungslösung zum Ausdruck, die Russland als ebenbürtigen Gesprächspartner mit legitimen Interessen verklärt.«

Ackermann hat recht: alles wie 1939. Der Russe hat keine legitimen Interessen, was »die« Ostdeutschen nicht wissen wollen. Schön, dass wenigstens er eine konsolidierte Erinnerung hat.

Alles wie 1939. Der Russe hat keine legitimen Interessen, was »die« Ostdeutschen nicht wissen wollen. Schön, dass wenigstens Ackermann eine konsolidierte Erinnerung hat.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (28. August 2024 um 14:47 Uhr)
    Beim Lesen dieses Artikels fiel mir gleich wieder der Text von Hartmut König zu »Wenn die Neugier nicht wär« ein: »Wenn der Russe nicht wär.« Nachdem man nun über mehr als dreißig Jahre hinweg die DDR als Unrechtsstaat, als Anhängsel der Sowjetunion, als Überwachungsstaat und als zurückgebliebene Landstriche in Mitteldeutschland (!) verunglimpfte geht es nun an die Geschichte, die den Westdeutschen als Zusammenbruch, die Zeit des zwölf Jahre dauernden »Tausendjährigen Reiches« als eine Idiotie von wenigen Fehlgeleiteten verkauft hat. Dazu müssen natürlich »Historiker« zu Wort kommen, die wie Ackermann die Gnade der späten Geburt haben. Dazu gehören auch einige andere. Aber Ackermann scheint neben dem Militärhistoriker Neitzel aus Potsdam ein ganz besonders guter Geschichtsklitterer zu sein. Ich möchte gerne wissen, woher die Weisheiten kommen. Vier Jahrzehnte Besatzungsregime der Sowjetunion? Und die Westallierten? Kein Regime? Woher kam denn das alles? Potsdamer Abkommen, Konferenzen von Teheran und Jalta werden offensichtlich nicht reflektiert – weil sie nicht ins (Feind-)Bild passen. Und mir stößt bitter auf, dass hier die Opfer des Maidan-Putsches in Odessa und anderswo überhaupt nicht auftauchen. Und die Politik der Geschichtsfälschung der ukrainischen Regierung, indem Schuchewitsch, Bandera und andere Nazikollaborateure aus der Ukraine wieder auf den Heldensockel gehoben werden. In der letzten Strophe des oben erwähnten Liedes spricht Hartmut König: Der KZ-Häftling: Wenn der Russe nicht wär, wär ich nicht mehr am Leben. Wurde wiedergeboren. Hatte mich aufgegeben. Habe vieles vergessen. Nie den Russen am Tor. Der hatte noch Tränen, die ich längst verlor. Und was immer man lügt, ich seh dieses Gesicht und verrate es nicht. Und das sollten sich diese »Historiker« mal durch den Kopf gehen lassen, wenn sie die 6 Millionen ermordeten Juden, die 27 Millionen gefallenen Sowjetsoldaten und alle anderen Opfer des Zweiten Weltkrieges so verhöhnen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (27. August 2024 um 11:04 Uhr)
    Zum Nichtangriffsvertrag – der hier mit dem Münchner Abkommen auf eine Stufe gestellt wird und von dem wir praktisch nur die Sichtweise des FAZ-Schreiberlings erfahren – gibt es zwei interessante Beiträge von Kurt Gossweiler. Auszug: »Und als wir dann erlebten, dass ganz offenbar als Auswirkung dieses Vertrages die deutschen Truppen Polen nicht bis an die sowjetische Grenze hin besetzten, sondern vorher Halt machten, und dass auch die baltischen Staaten von Hitlers Armeen nicht besetzt wurden, sondern umgekehrt die Rote Armee dort ihre Stützpunkte errichtete und in den östlichen Teil Polens einrückte, da empfand ich darüber eine große Genugtuung, weil es der Sowjetunion ganz offensichtlich gelungen war, mit dem Nichtangriffsvertrag dem Expansionsdrang des deutschen Faschismus einen Riegel vorzuschieben« (kurt-gossweiler.de)

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