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Aus: Ausgabe vom 30.08.2024, Seite 4 / Inland
Inlandsgeheimdienst

Kein gutes Omen

BSW-Abgeordnete kritisiert Verfassungsschutzkategorie »Delegitimierung des Staates«
Von Kristian Stemmler
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Kritik am Staat kann zum Fall für den Geheimdienst werden: VS-Zentrale in Köln-Chorweiler

Wenn es darum geht, vermeintliche Bedrohungen für den bundesdeutschen Staat auszumachen, erweist sich der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz (VS) als erfindungsreich. Das zeigt ein Vorgang, auf den die Bundestagsabgeordnete Jessica Tatti vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) jetzt mit einer Anfrage an die Bundesregierung aufmerksam machte. Wie aus der Antwort des Bundesinnenministeriums vom Mittwoch hervorgeht, die junge Welt vorliegt, ordnete das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Jahr 2023 rund 1.600 Personen der Kategorie »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« zu, 2022 etwa 1.400. Diese Definition ersann das Amt im April 2021 nach eigenem Bekunden als Reaktion auf die Proteste gegen die Coronamaßnahmen.

Ausgangspunkt für Tattis Anfrage waren Äußerungen der Berliner Journalistin Aya Velázquez, die im Juli die ihr von einem Whistleblower zugespielten RKI-Protokolle – also Protokolle des Robert-Koch-Institutes aus der Pandemiezeit – veröffentlicht hatte. Im Interview mit der Berliner Zeitung berichtete Velázquez vor einer Woche, dass sie vom VS beobachtet wird, und zwar, wie der Geheimdienst ihr auf Anfrage mitteilte, unter der vor drei Jahren neu eingeführten Kategorie. Als Grund wurden ein Post der Journalistin in den sozialen Medien und ein journalistischer Beitrag aus dem Jahr 2022 genannt.

Mit ihrer Anfrage wollte Tatti in Erfahrung bringen, wie viele Personen unter der neuen Kategorie beobachtet wurden und wie viele dieser Beobachtungsvorgänge mit dem Protestgeschehen gegen Coronamaßnahmen in Zusammenhang standen. Zwar nannte das Innenministerium die Zahlen der beobachteten Personen, die Antwort fiel ansonsten aber eher vage aus. Die »bloße Teilnahme« an Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen sei »zu keinem Zeitpunkt ein hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkt für eine Zuordnung zum Phänomenbereich« gewesen, heißt es da etwa.

Die dem Bereich zugeordneten Personen machten vielmehr »demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen verächtlich«. Diese Form der Delegitimierung erfolge oft »nicht über eine offene Ablehnung der Demokratie als solche«, sondern über eine »ständige Verächtlichmachung von und Agitation gegen demokratisch legitimierte Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates«. Das Ministerium konstatiert: »Eine in der Fragestellung erfragte Zuordnung zum Coronaprotestgeschehen kann daher nicht erfolgen.«

Gegenüber jW kritisierte Tatti die vom VS eingeführte Kategorie grundsätzlich. Sie lasse den Behörden einen »extrem großen Interpretationsspielraum«, das halte sie für »hochproblematisch«. Die kürzlich veröffentlichten RKI-Protokolle würden zeigen: »Was unlängst noch als Verschwörungstheorie oder Falschinformation diffamiert wurde, ist mittlerweile zumindest eine diskussionswürdige Position.« Dass offenbar auch Journalisten vom Geheimdienst wegen vermeintlicher »Delegitimierung des Staates« bespitzelt würden, sei »kein gutes Omen für die Pressefreiheit in unserem Land«, so die BSW-Abgeordnete.

Als »seltsam« bezeichnete Tatti, dass das Innenministerium in seiner Antwort einen Zusammenhang der neuen Kategorie mit den Coronaprotesten leugnet. Schließlich werde auf der Internetseite des BfV ausdrücklich ein Bezug zum »Protestgeschehen gegen Coronaschutzmaßnahmen« hergestellt. In einzelnen Fällen diene dieser Protest »als Vorwand und Hebel, um die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung als solche zu bekämpfen«. Um diese Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen adäquat bearbeiten zu können, habe das BfV den neuen Phänomenbereich »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« eingerichtet.

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  • Leserbrief von N. Schreiber aus München (30. August 2024 um 00:02 Uhr)
    Ein damaliger Kommentar im Tagesspiegel unter einem Artikel zur Einführung dieser Kategorie, der genau sowas für die Zeit prognostizierte, nachdem die BRD-Stasi mit den ja wirklich in weiten Teilen faschistoiden Querquatschköppen durch ist, wurde gelöscht/nicht veröffentlicht. Von daher auch 2024 wie damals business as usual: Wenn die Heuchelei gar zu dreist und offensichtlich wird, kann mensch sich auf das verlogene Mauern des Bürgertums mittels Löschens, Totschweigens, rhetorischem Nebels, Gaslightings etc. verlassen. Da sich die Welt außerhalb unser selbst nicht ändert, wenn wir einfach nur die Augen schließen, ändert sowas selbstverständlich auch nicht viel an den realen Verhältnissen: So lange der sogenannte Verfassungsschutz dem Auftrag in seiner offiziellen Bezeichnung nur sekundär nachkommen kann, also die Verfassung bestenfalls und nur dann schützt, wenn dies seinem Primärziel, den Kapitalismus und seine Schlägertruppen in Form des in wesentlichen Teilen ganz und gar nicht gemäß dem Grundgesetz verfassten deutschen Staates zu schützen, nicht entgegensteht, muss auch diese Institution schnellst möglich aufgelöst werden. Denn auch: Die Kategorie ist ja zumindest teilweise aus Sicht der Herrschaft gar nicht so inkompetent entblößend, wie es vordergründig scheinen mag: Der Teil des rhetorischen Spins, der hinter der Offensichtlichkeit des eigentlichen Vorhabens gemäß der Kategorienbezeichnung liegt und damit im Sinne der sicherlich gut funktionierenden Hirnwäsche beinah perfekt versteckt wurde, ist doch der: Da es eine wirkliche Demokratie und einen echten Rechtsstaat in Kombination mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem niemals geben kann, aber alle Heuchler aus der Herrschaftsecke diese beiden Vokabeln fast immer so im Munde führen, als ob wir so etwas realit hätten, delegitimieren sich der Staat und seine Herrscher ja tatsächlich selbst. Und verfolgen dann oft diejenigen, die diese Selbstdeligitimierung kenntlich (!) machen … nackte Kaiser und so …

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