Kiew beschwert sich
Von Reinhard LauterbachDie Ukraine hat einen neuen Ton in ihrer Kommunikation mit den Öffentlichkeiten ihrer westlichen Unterstützer angeschlagen. Symptomatisch ist ein Interview des ukrainischen Botschafters in Berlin, Olexij Makejew, im Deutschlandfunk am Donnerstag. Dort sagte er, die Ukraine brauche »viel mehr Mut« auf seiten ihrer Unterstützer. Ähnlich äußerten sich Präsident Wolodimir Selenskij, der den Westen zu mehr Entschlusskraft aufrief, und sein Außenminister Dmitro Kuleba, der sich bei einer Sitzung mit den NATO-Außenministern darüber beschwerte, dass der Westen seit Beginn des Krieges in »Eskalationsschemata« denke und viele zugesagte Waffensysteme noch nicht eingetroffen seien.
Unterdessen gibt es vorläufig keine Anzeichen dafür, dass die USA dem ukrainischen Drängen nachgegeben und der Kiewer Führung die Nutzung der von ihnen gelieferten Mittelstreckenwaffen auf Ziele in Russland jenseits des unmittelbaren Kriegsgebiets freigegeben haben. Im Gegenteil lassen sich Mitteilungen des US-Verteidigungsministeriums mit dem Inhalt, dass Russland die meisten seiner Kampfflugzeuge auf Stützpunkte außerhalb der Reichweite der ATACMS-Raketen zurückgezogen habe, als Argument in dieser Auseinandersetzung interpretieren: dass nämlich die Ausweitung solcher Angriffsziele militärisch zwecklos sei.
Auf der anderen Seite sind die ukrainischen Mitteilungen der letzten Tage über die Entwicklung einer neuen Rakete namens »Paljanizja« politisch ein Signal der Kiewer Führung, dass sie sich von den Vorgaben ihrer westlichen Partner hinsichtlich der Kriegführung unabhängig machen will. Als Reichweite dieser Rakete nannte Selenskij am Mittwoch 600 bis 700 Kilometer. Das würde Schläge gegen Ziele in Moskau erlauben, liegt aber unter dem, was Anfang der Woche der Konstrukteur der Waffe behauptet hatte: dass diese Rakete Ziele in ganz Russland treffen könne. Tatsache ist, dass die Ukraine inzwischen weitreichende Drohnen besitzt, die Ziele auch in der russischen Polarregion und mehrere hundert Kilometer östlich von Moskau erreicht haben.
Von der Front im russischen Grenzbezirk Kursk gibt es wenig aufschlussreiche Neuigkeiten. Die Ukraine berichtet über die Einnahme weiterer Ortschaften, Russland über die Rückeroberung anderer. Nach westlichen Schätzungen hat Moskau die Zahl seiner Truppen im Kursker Gebiet inzwischen aber auf etwa 30.000 aufgestockt. Für den AKW-Standort Kurtschatow, der etwa 40 Kilometer von den weitesten nachgewiesenen Vorstößen der Ukraine entfernt liegt, wurden Zugangsbeschränkungen eingeführt. Es dürfen nur noch gemeldete Einwohner oder Inhaber von Passierscheinen die Stadt betreten.
Derweil setzen die russischen Truppen ihren Vormarsch im Donbass offenbar ohne größeren Widerstand fort. Sie stehen inzwischen noch etwa zehn Kilometer südöstlich der als Bahn- und Straßenknotenpunkt wichtigen Stadt Pokrowsk im Bezirk Donezk. Das ukrainische Portal euromaidanpress.com wies darauf hin, dass Russland Pokrowsk nicht zwingend direkt einnehmen müsse, um es als Versorgungsknotenpunkt für die Ukraine unbrauchbar zu machen. Es reiche, die Straßen und Bahnen in Schussweite zu haben. Eine der vom ukrainischen Militär intensiv genutzten Nachschubrouten ins südlich von Pokrowsk gelegene Karlowka ist nach Angaben des ehemaligen Präsidentenberaters Olexij Arestowitsch bereits unterbrochen. Da russische Truppen zuletzt bemüht waren, die ebenfalls südlich gelegene Stadt Selidowe einzunehmen, wächst die Befürchtung, dass Russland gar nicht unbedingt in erster Linie Pokrowsk nehmen wolle, sondern einen großangelegten Zangenangriff auf die am westlichen Stadtrand von Donezk stehenden ukrainischen Truppen plane.
Für diese Überlegung könnte der Umstand sprechen, dass russische Truppen zuletzt ihre Vorstöße auch am Südrand der Donbass-Front um die Bergbaustadt Wugledar verstärkt und offenbar eine wichtige Versorgungsroute nördlich von dieser unterbrochen haben. Gleichzeitig werden in der russischen Öffentlichkeit Befürchtungen laut, dass die Ukraine vor Pokrowsk bewusst zurückweiche, um die russische Armee in eine Falle zu locken und in ihre immer längeren Flanken vorstoßen könnte. Dass diese Befürchtung wohl auch von Vertretern des Militärs geteilt wird, zeigt der Umstand, dass Russland zuletzt offenbar eher bemüht war, den Frontvorsprung vor Pokrowsk auszuweiten, als in die Tiefe vorzustoßen.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (30. August 2024 um 10:04 Uhr)Ich stimme nicht zu, dass die Ukraine einen »neuen Ton« in ihrer Kommunikation mit den westlichen Unterstützern angeschlagen hat. Allerdings muss ich einräumen, dass die westliche Strategie – wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen kann – alles andere als klar ist. Warum erhielt die Ukraine nicht von Anfang an alle möglichen militärischen Ausrüstungen, sondern wurde nur schrittweise und zögerlich beliefert? Anfangs wollte Deutschland lediglich Schutzhelme und defensive Waffen liefern, während heute bereits F-16-Kampfjets in der Ukraine bereitstehen. Es scheint, als hätte der Westen versucht, Russland langfristig zu schwächen, den Krieg in die Länge zu ziehen und das Land durch Sanktionen und Embargos in die Knie zu zwingen. Diese Strategie hat sich jedoch als kontraproduktiv erwiesen. Die Ukraine verfolgte derweil eine unrealistische Strategie, die auf direkte Hilfe der NATO hoffte. Was Selenskij jetzt tut, ist nichts Neues, nur öffentlicher: Er versucht, Russland so weit zu provozieren, dass es unüberlegt handelt, was wiederum die Weltöffentlichkeit gegen Russland aufbringen und das Land weiter isolieren könnte.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (2. September 2024 um 12:13 Uhr)»Es scheint, als hätte der Westen versucht, Russland langfristig zu schwächen, den Krieg in die Länge zu ziehen und das Land durch Sanktionen und Embargos in die Knie zu zwingen.« Lieber Herr Hydy, das, was Sie hier im Konjunktiv formulieren, ist längst eine Binsenweisheit. Russland handelt, im Gegensatz zum Kiewer Regime, besonnen. Während die ukrainische Armee tagtäglich bewusst Zivilisten angreift und tötet, hält sich Russland mehr als zurück. Wie lange noch, das bestimmt Russland allein und da lässt man sich dann auch nicht von einer imaginären »Weltöffentlichkeit« beeinflussen.
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