75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 21. November 2024, Nr. 272
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 30.08.2024, Seite 8 / Ausland
Nordirak/Südkurdistan

»Ehrliche Journalisten sind hier in Gefahr«

Kurdische Reporterinnen bei türkischem Drohnenangriff im Nordirak getötet. Ein Gespräch mit Kemal Heme Reza
Interview: Tim Krüger
imago0756871180h.jpg

Am 23. August hat eine vermutlich türkische Kampfdrohne nahe der Stadt Süleymania im Nordirak ein Fahrzeug mit einem Team Ihrer Firma beschossen. Können Sie uns schildern, was sich genau zugetragen hat?

Der Luftangriff geschah am Freitag morgen, etwas nach 10 Uhr, als unsere Journalisten gerade in der Region Şarezor unterwegs waren. Sie waren auf dem Weg in die Region Hewreman, um einen Dokumentarfilm zu drehen. Noch bevor sie ihren Zielort erreichen konnten, wurde ihr Auto von einer türkischen Drohne mit einer Rakete angegriffen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich drei unserer Journalisten im Auto. Unser Mitarbeiter Rêbin Bekir saß am Steuer. Er hat großes Glück gehabt und wurde durch die Druckwelle aus dem Fahrzeug geschleudert. Er kam mit Knochenbrüchen davon und befindet sich immer noch im Krankenhaus. Glücklicherweise ist seine Situation stabil. Doch unsere beiden Journalistinnen Gulistan Tara und Hero Bahadin wurden getötet. Gulistan Tara kam aus der Stadt Batman im Teil Kurdistans, der in der Türkei liegt. Sie war 40 Jahre alt und arbeitete fast 25 Jahre für kurdische Medien. Gulistan war eine sehr gute, professionelle Journalistin und seit vier Jahren in unserer Firma. Hero Bahadin wurde 1992 in Süleymania geboren und arbeitete seit sieben Jahren bei uns als Journalistin. Nach der Explosion ging das Auto in Flammen auf und brannte vollständig aus. Auch ihre beiden Körper sind bis auf die Knochen verbrannt. Als Heros Vater im Krankenhaus war, um seine Tochter zu identifizieren, rief er mich an und fragte: »Herr Kemal, sagen Sie mir, welche von beiden ist meine Tochter.« Er konnte sie nicht mehr erkennen, denn es ist nichts mehr übrig, nur Knochen. Es ist wirklich schwer zu ertragen.

Erst wenige Tage vor dem Angriff hatten »Reporter ohne Grenzen« einen alarmierenden Bericht über die Angriffe auf Medienschaffende veröffentlicht und auch auf den im Juli in der Şengal-Region durch einen türkischen Luftangriff getöteten Journalisten Murad Mirza Ibrahim verwiesen.

Egal ob in Şengal oder Süleymania, die türkische Armee greift alle Journalisten an, die versuchen, sich ihrer Darstellung der »Realität« entgegenzustellen. Es macht keinen Unterschied, wo du arbeitest oder aus welchem Teil Kurdistans du kommst – wenn du als Journalist für die Freiheit arbeitest, gerätst du in ihr Fadenkreuz. Für die Türkei gilt auch heute immer noch die Devise: »Nur ein toter Kurde ist ein guter Kurde.«

Es handelt sich also nicht um »Kollateralschäden«?

Nein, auf gar keinen Fall. Alle Journalisten, die den türkischen Faschismus bloßstellen, die darüber berichten, wie sie Kurdistan niederbrennen und aufdecken, wie sie Zivilisten ermorden, müssen damit rechnen, zum Ziel zu werden. Besonders unsere Firma Chatr Multimedia Production ist seit ihrer Gründung Ende 2009 immer vorne mit dabei, wenn die türkische Armee wieder irgendwo Zivilisten angreift und berichtet darüber, wie sie die Kurdistan-Region im Irak ausplündern. Ich denke, deshalb haben sie unser Team gezielt angegriffen.

Auch die kurdische Regionalregierung im Nordirak schränkt die Pressefreiheit stark ein. Kürzlich wurde ein Kollege von Roj-News mit fadenscheinigen Begründungen zu über drei Jahren Haft verurteilt. Was ist der Grund für dieses Vorgehen?

Die Bedingungen für Journalisten sind hier sehr schlecht. Wir sind nicht nur durch die türkischen Angriffe bedroht, sondern auch die Milizen der Barzani-Partei KDP bekämpfen die freie Presse. Es gibt viele Kollegen, die in den Gebieten, die vom Barzani-Clan kontrolliert werden, in Haft sitzen. Die Familie Barzani unterhält sehr enge Verbindungen zum türkischen Nachrichtendienst MIT und fürchtet Journalisten, die ihre guten Beziehungen zur Türkei ausleuchten. Sie stiehlt das gesamte Geld und Erdöl und hat Angst, dass jemand darauf aufmerksam machen könnte. Auf dem Papier sind auch sie Kurden, aber die Barzanis handeln genauso wie Erdoğan. Gute und ehrliche Journalisten sind hier in Kurdistan in Gefahr.

Hinweis: In einer ersten Fassung des Beitrages hieß es, ein Journalist von Roj-News sei zu über sechs Jahren Haft verurteilt worden. Es waren aber über drei Jahre. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. (jW)

Kemal Heme Reza ist Generaldi rektor von Chatr Multimedia Production in Süleymania (kurdisch: Silêmanî)

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:

Ähnliche:

  • Durch Petrodollars verbunden: Der kurdische Präsident  Nêçîrvan ...
    01.07.2024

    Vor der Sommeroffensive

    Irak: Türkei zieht Truppen in Kurdistan-Region zusammen. Guerilla schlägt mit Drohnen zu
  • Kurden protestieren gegen türkische Drohnenangriffe auf die Kurd...
    25.08.2023

    Ankara eskaliert Drohnenkrieg

    Nordsyrien: Toter bei türkischem Angriff auf Fernsehteam. Attacke auch aus Nordirak gemeldet

Regio:

Mehr aus: Ausland