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Aus: Ausgabe vom 06.09.2024, Seite 5 / Inland
Systemwettstreit

SPD dreht am Rad

Bundestagsfraktion findet neue Endgegner: Temu, Shein und Aliexpress
Von Alexander Reich
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Ist das die Möglichkeit! (Temu und Shein auf dem deutschen Onlinemarkt)

Die Bundestagsfraktion der SPD ist in Klausur. Nach zwei Tagen will sie an diesem Freitag wie Phönix aus der Asche steigen. Mit »Positionspapieren« zu den großen Themen. Wobei den meisten Genossen schwanen dürfte, auf welch verlorenem Posten sie stehen. In Sachen »Messergewalt« hecheln sie der AfD hinterher. Und was die Lockerung der Schuldenbremse angeht, für die es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bräuchte, werden die Sozen am langen Arm von CDU/CSU verhungern.

Dennoch muss Aktionismus sein. Oder wenigstens ein Profilierungsversuch. Schließlich droht im schönen Brandenburg mit seinem Landgut Stober, dem Ort der Klausur, das Amt des Ministerpräsidenten verlorenzugehen. Nach 34 Jahren. Und das schon in zwei Wochen. Da ist Landtagswahl.

Glücklicherweise haben die findigsten Fraktionsmitglieder aber doch noch ein heißes Thema ausgemacht, das sich besetzen lässt. Kurz vor der Klausur haben sie Reuters ein Papier zur Verbreitung zukommen lassen, das es in sich hat. Die Parlamentarier wollen raus aus dem Klein-Klein der Landespolitik und das ganz große Rad drehen. Sie haben eine Art Endgegner gefunden: »chinesische Online-Händler wie Temu, Shein und Aliexpress«. Die Agentur zitierte aus dem ihr »vorliegenden Papier« zur Klausur im Landgut, dass diese Internetplattformen »allein den deutschen Markt mit täglich 400.000 umweltschädlichen und teils gesundheitsgefährdenden Produkten fluteten«. Dagegen soll nun also vorgegangen werden durch »eine massive Ausweitung der Zollkontrollen sowie die Abschaffung der 150-Euro-Zollfreigrenze«.

Tatsächlich schicken Temu und Co. ihre Artikel in Einzelpaketen aus China nach Europa: zwei T-Shirts für jeweils 4,50 Euro, dazu noch ein Paar Sneakers für 9,70 Euro – selten kommen die Sendungen über den 150-Euro-Freibetrag für Einfuhren in der EU. Doch das Geschäftsmodell der E-Commerce-Konzerne hat noch ein paar mehr »Erfolgsgeheimnisse«. Hergestellt wird die »Fast Fashion« in Hightechfabriken meist »just in time« – so fallen keine Lagerkosten an. Außerdem verzichten Temu, Shein und Aliexpress komplett auf eine eigene Logistik. Die Onlinehändler fungieren ausschließlich als Vermittler zwischen vorzugsweise chinesischen Verkäufern und Kunden in den USA, Großbritannien oder eben Deutschland.

Hierzulande wurde auf dem 2023 eröffneten Temu-Marktplatz bereits mehr als eine Milliarde Euro umgesetzt. Shein soll im vergangenen Jahr weltweit 45 Milliarden Euro umgesetzt, den Gewinn dabei auf zwei Milliarden verdoppelt haben. Genau weiß man es nicht. Der Konzern legt keine Bilanzen vor. Aber das könnte sich schon bald ändern. Shein plant Börsengänge in den USA und London.

Ein Anbieter von Billigmode, dem hierzulande Marktanteile flöten gehen, ist Kik. Die Entwicklung hat den Chef der Kette, Patrick Zahn, zum Moralisten werden lassen. »Dass es überhaupt die Möglichkeit gibt, dass Anbieter wie Temu und Shein auf dem Markt agieren«, sei »eine schreiende Ungerechtigkeit«, schäumte Zahn am 28. August bei einem Termin der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung in Düsseldorf. Er fuhr die großen Geschütze auf, sprach von »schadstoffbelasteter und durch Kinderarbeit hergestellter Ware«.

Temu und Shein haben nach der Tirade auf engmaschige Kontrollen in ihren Lieferketten hingewiesen. Die Einhaltung der Arbeitsgesetze werde genauso überprüft wie die Produktqualität, versicherten Konzernsprecher. Shein ließ erklären, im vergangenen Jahr seien 400.000 chemische Tests durchgeführt worden, um Umweltschäden und Gesundheitsgefährdung auszuschließen.

Die SPD-Fraktion hat das nicht überzeugt. Gut möglich übrigens, dass sie vom Kik-Boss auf die Spur gesetzt wurde. Ob sie die »Abschaffung der 150-Euro-Zollfreigrenze« nun tatsächlich in Brüssel durchzusetzen versucht, bleibt abzuwarten. Ihre neuen Endgegner sind auch für den Kampf mit viel mächtigeren Verfechtern des westlichen Protektionismus gut aufgestellt. Shein hat seinen Hauptsitz längst nach Singapur verlegt. Sollten Scholz und Genossen kraft ihrer Wassersuppe riesige Handelsschranken gegen Produkte aus China errichten, kämen die Billigkleider wohl schon bald von dort, aus Irland oder Ungarn.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Fjerritslev (6. September 2024 um 13:34 Uhr)
    Deutliche Restkompetenz der SPD! Patrick Zahn kennt sich aus mit schadstoffbelasteter und durch Kinderarbeit hergestellter Ware und mit brennenden Fabriken. Bei Google eingeben: kik bangladesch brand. Außerdem: Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe, Wertewesten halt.

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