Heimliches Berlin
Von Matthias ReicheltLothar Lambert, der produktivste Undergroundfilmer Berlins, feierte kürzlich seinen 80. Geburtstag. Mit Feiern im üblichen Sinne war nichts, denn kaum etwas stresst den Regisseur mehr, als im Mittelpunkt oder auf der Bühne zu stehen. So sehr er die liebevoll von Jan Gympel gestaltete und am 1. September beendete Retrospektive »LoLa DaBei« in vier Berliner Off-Kinos für ihn und seine Regiekollegin Dagmar Beiersdorf schätzte, so sehr haderte er auch mit seiner Bühnenangst. Nur eine seiner vielen Ängste, die er in seinen Filmen auch zu erkennen gibt. Dennoch erlebt das Publikum immer einen rede- und wortgewandten Regisseur, der analytisch, charmant und amüsant von seinem Leben und seiner Arbeit erzählen kann.
Mit seinem neuesten Film, dem nunmehr 42., lässt er das eigene Leben und sein Filmschaffen zum dritten Mal Revue passieren. Nach »Verdammt noch mal Berlin. Fucking City revisited« von 2017 folgte »Oben rum, unten rum. Lamberts gesammelte Einakter« von 2019. In der Zeit der Coronamaßnahmen arbeitete Lambert an der Verbesserung und Korrektur eines begonnenen Films von Frank Schoppmeier, dem Begründer des rührig-schönen Kinomuseums in der Schönleinstraße. Dessen Filmidee wurde von Lambert umgearbeitet, erweitert und unter dem Titel »Stellenweise superscharf. Der seltsame Dreh des Herrn Schoppi« 2023 uraufgeführt. Nun wird mit »Vornerum, hintenrum« eine zweite Sammlung von Einaktern im Bundesplatz-Kino in Berlin Weltpremiere feiern.
Der umtriebige Regisseur hat bereits häufiger seinen letzten Film angekündigt und trotzdem immer wieder aufs neue ein weiteres Werk präsentiert. Ähnlich wie Bob Dylan mit seiner Musik auf der »Never Ending Tour« wird Lothar Lambert wohl bis an sein Lebensende seiner Leidenschaft frönen und Filme produzieren.
Während Lambert 2017 mit seinem 39. Film »Fucking City revisited« sein Leben anhand der Bilder »seines« Westberlins und Ausschnitten aus achtzehn (!) seiner Filme erzählte, ging er für die »gesammelten Einakter Vol. 1 und Vol. 2« anders vor. Zusammen mit Albert Kittler, der seit vielen Jahren für Kamera und technische Umsetzung von Schnitt und Musik verantwortlich ist, durchstöberte er das Archiv und entdeckte faszinierendes Material, das erst digitalisiert werden musste, aber auch bereits digitale Szenen aus diversen Filmen, die am Schneidetisch der dramaturgischen Stringenz zum Opfer gefallen waren.
Mit einem kolossalen Einstieg in neorealistischer Manier, ohne Ton auf 16 Millimeter in Schwarzweiß gedreht, beginnt der neue Film. Es handelt sich um Ausschnitte eines Dramas aus den frühen 70er Jahren, das nie fertiggestellt wurde und in dem Lambert die Hauptrolle spielt. Er zeigt sich nachdenklich am Fenster stehend, lässt eher unglücklich den Sex mit seiner von Dagmar Beiersdorf gespielten Partnerin über sich ergehen und flaniert durch die Stadt auf der Suche nach Nähe und Liebe, um am Ende verzweifelt mit Tabletten und Alkohol in einem Freibad Selbstmord zu begehen. Die Aufnahmen sind nun als Kapitel unter dem Titel »Frei / Bad / Tod« zu sehen, unterlegt mit der traurig-schönen Musik von Miles Davis. Die insgesamt fünf Kapitel dieser zweiten »Sammlung von Einaktern« sind in typischer Lambert-Manier hin- und herswitchend montiert und führen so immer wieder zu neuen dramaturgischen Höhepunkten. »Wenn ich mittwochs in mein Kino geh« hat wie eigentlich alles, was in seinen Werken verhandelt wird, autobiographische Züge. Lambert trifft sich einmal in der Woche mit einer Runde illustrer Menschen aufgrund des geteilten Interesses an alten deutschen Filmen nachmittags zum Besuch einer Filmreihe in den Eva-Lichtspielen. Begeistert erzählen sie von ihren Kinoerlebnissen und setzen so diesem Medium samt der immer stärker bedrohten Aufführungsorte ein wunderbares Denkmal.
Durch den gesamten Film zieht sich das Kapitel »Kampf um Raum«, das Lambert seiner erfolgreichen Abwehr einer Kündigung aus seiner Anderthalbzimmerwohnung in Berlin-Schöneberg wegen angeblichen Eigenbedarfs widmet. Ausgerechnet eine SPD-Kulturpolitikerin aus Süddeutschland hatte versucht, ihn aus der Wohnung zu klagen, was für den angstbesetzten Regisseur ein Trauma war. In dem Kapitel liest die Schauspielerin und Radiomoderatorin Claudia Jakobshagen aus den unverschämten Anwaltsbriefen der Klägerin und muss manchmal laut über die Dreistigkeit lachen. Hier verbindet sich, wie so oft in Lamberts Werken, seine eigene Geschichte mit der Filmerzählung und wird zu einem starken Zeichen gegen die Gentrifizierung der Stadt. Das Überzeugende an Lamberts Filmen und ihren humanistisch geprägten Botschaften ist, dass sie von eigenem Erleben beseelt sind, das aber nie humorlos oder ironiefrei. »Vielleicht hab’ ich auch Filme gemacht als Teil meiner Selbstbefreiung«, vermutet Lambert.
Dem Filmwissenschaftler Claus Löser ist unbedingt zuzustimmen, wenn er Lambert auch als einen politischen Regisseur begreift, dessen Werk nicht nur immer wieder ein filmisches Plädoyer für die Akzeptanz queerer Lebensformen ist, sondern das en passant auch die Widersprüche in der Entwicklung der Stadt Berlin dokumentiert hat.
Mit wenigen Ausnahmen sind seine Filme selbstfinanzierte Low-Budget-Produktionen, denn Lambert will sich nicht dem Druck aussetzen, der durch große finanzielle Zuwendungen entsteht und sich zwangsläufig auf Produktion, Schauspieler, Form und Inhalt auswirkt. Seine Handschrift der unkonventionellen Schnitte, der Integration offenherziger Einblicke in die Diskussionen am Set, seine Kritik an den Schauspielern und umgekehrt deren Kritik an ihm folgen einem ironischen Realismus. In seinem Werk finden sich viele wichtige Perlen der Filmgeschichte, die mit Sicherheit eines Tages ganz neu entdeckt und aufgrund ihres unangestaubten Charmes ganz neue Erfolge feiern werden. Der 43. Film ist bereits in Planung.
»Vornerum, hintenrum – Lamberts gesammelte Einakter Vol. 2«, Regie: Lothar Lambert, BRD 2023/24, 71 Min., Uraufführung in Anwesenheit des Regisseurs am 8. September im Bundesplatz-Kino in Berlin
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