Bei Laune und Leben
Von Angelo Algieri»Meine Mutter starb diesen Sommer«, stellt die 14jährige Ich-Erzählerin und Protagonistin Billie gleich zu Beginn des Debütromans »Paradise Garden« von Elena Fischer klar. Die 1987 geborene Autorin hat in Mainz, wo sie mit ihrer Familie lebt, Komparatistik und Filmwissenschaft studiert. 2021 nahm sie beim Berliner Literaturwettbewerb »Open Mike« teil, bei dem sie einen Auszug aus dem Roman vorstellte, der für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert war.
Zurück zum Inhalt: Billie und ihre Mutter Marika leben allein in einem Wohnblock am Stadtrand eines anonymen Ortes in Deutschland. Ihren Vater hat Billie nie kennengelernt; wenn sie etwas über ihn erfahren möchte, blockt ihre Mutter ab. Sie leben in prekären Verhältnissen, Marika muss gleich zwei Jobs annehmen. »Der Barjob hält uns zwar bei Laune, aber der Putzjob hält uns am Leben«, erklärt sie. Kurz vor Schulferienbeginn gewinnen sie bei einem Radioquiz Geld und entscheiden, in den Urlaub nach Frankreich zu fahren. Am Vorabend der Abfahrt, erhält Marika jedoch eine schlechte Nachricht: Ihre Mutter, die in Ungarn lebt und zu der sie ein schwieriges Verhältnis hat, ist krank und möchte sich in Deutschland behandeln lassen. Adieu, Urlaub!
Billie ist zunächst not amused. Die folgenden Wochen werden genutzt, um mit der Großmutter von Praxis zu Praxis zu gehen. Aus ihrem diffusen Krankheitsbild können die Ärzte nichts Eindeutiges diagnostizieren. Eines Tages kommt es zum heftigen Streit. Die Großmutter macht Marika Vorwürfe, ein armseliges Leben zu führen. Billie mischt sich ein und verrät, dass die Großmutter Tabletten, die ihr verschrieben worden sind, im Klo runterspült. Daraufhin packt die Großmutter Billie fest am Arm, Marika springt auf, ihre Tochter zu beschützen, und stolpert: »Meine Mutter fiel, und ihr Kopf knallte auf unseren Glastisch und auf den Boden.« Marika stirbt.
Nun ist Billie allein und macht die Großmutter für den Tod ihrer Mutter verantwortlich. In den Habseligkeiten von Marika findet Billie Fotos und Zertifikate. Auf einem Bild sieht sie einen männlichen Arm und vermutet, dass es sich um den Arm ihres Vaters handelt. Im Drang, endlich zu erfahren, wer ihr Vater ist, macht sich Billie allein mit dem Auto ihrer Mutter auf den Weg nach Norddeutschland. An der Nordseeküste angekommen, sucht sie die Volkshochschule auf, wo das Deutschzertifikat ausgestellt ist: Bekommt sie hier einen Hinweis auf ihren Vater über die geheime Vergangenheit ihrer Mutter?
Elena Fischer tut gut daran, eine Figur in prekären Verhältnissen in den Mittelpunkt zu stellen. Sie beschreibt treffend die Armut in ihrer Umgebung, stellt aber heraus, wie sich die betroffenen Menschen untereinander helfen. Ein solidarisches Porträt, wie es in deutschsprachigen Texten sonst kaum zu lesen ist. Außerdem zeigt Fischer richtig auf, wie sehr schichtbezogene Diskriminierung zu Scham und Minderwertigkeitsgefühlen führt.
Allerdings weist dieses Debüt auch bedauerliche Schwächen auf. Die prekären Verhältnisse hätten Anlass geben können, die ungerechten sozialen Verhältnisse zu kritisieren. Warum werden die unsicheren Arbeitsverhältnisse von Marika samt geringen Löhnen nicht thematisiert? Oder weshalb werden mangelnde politische Entscheidungen dafür nicht verantwortlich gemacht? Auch bleibt unverständlich, dass am Ende des Buches nahegelegt wird, dass Marika mit ihrer Tochter ein wohlhabendes Leben hätte führen können, wenn sie nicht abgehauen wäre. In anderen Worten: Wer arm ist, ist selber schuld.
Obwohl der Roman realistisch geschrieben ist, irritiert zudem, weshalb die 14jährige Billie ohne Probleme eine lange Autofahrt unbemerkt durch Deutschland unternehmen kann: komplett unglaubwürdig. Das ärgert um so mehr, da Fischer einen beeindruckend guten Stil mit exzellenten Vergleichen pflegt. Kurz: »Paradise Garden« fängt grandios an und endet als sozialkitschiger Schmöker. Schade.
Elena Fischer: Paradise Garden, Diogenes-Verlag, Zürich 2023, 352 Seiten, 23 Euro
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