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Aus: Ausgabe vom 10.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Flucht und Migration

Warten auf Godot

Von Khartum über Addis Abeba bis vor die Tore der BRD: Von den Hürden der Familienzusammenführung. Eine Reportage
Von Eike Seidel
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Von der äthiopischen Regierung zurückgenommene Geflüchtete am Flughafen in Addis Abeba (30.3.2022)

Es ist 9.00 Uhr, Osman stürzt in den Ankunftsbereich des Flughafens, die Maschine mit seiner Frau und den beiden Kindern ist schon gelandet. Noch vor fünf Stunden hat seine Frau ihm eine Nachricht geschickt, dass sie nun – nach neun Stunden des Wartens – das Flugzeug besteigen könne. Hier hat sie keinen Internetempfang, kann sich nicht melden. Er tigert hin und her, mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen. Ihr Warten dauert: Passkontrolle, eine lange Schlange. Warten vor deutschen Türen ist sie gewohnt.

Wie vor zwei Wochen in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, als sie endlich die Nachricht bekam, ihr Visum und die Visa der Kinder seien abholbereit, »ohne Termin«. Vier Stunden vor Öffnung der Botschaft war sie dorthin gegangen, drei weitere Stunden gingen die Türen immer mal wieder auf – nur nicht für sie. Hatte sie etwas missverstanden? Hieß dieses »ohne Termin« vielleicht, dass sie keinen Termin habe, dass jedes Warten vergeblich sei? Verzweifelt meldete sie sich bei Osman in Deutschland. Beide können seit Wochen kaum mehr schlafen.

Das Warten in Addis Abeba wurde unerträglich. Hier gibt es für Geflüchtete aus dem Sudan keinerlei Unterstützung. Manche in sudanesischen Communitys halten es nicht mehr aus, drehen durch. Schon zweimal ist eines ihrer Kinder von einer anderen Frau geschlagen worden. Nein, Addis Abeba ist kein Ort für sie zum Leben. Niemand außerhalb der Community spricht Arabisch. Dazu noch die Angst um den älteren Sohn, der an Sichelzellanämie leidet, einer Genmutation, mit der viele Afrikaner zwar weitgehend immun gegen Malaria sind, dafür aber ständig von schweren schmerzhaften Schüben bedroht sind. Alhamdulillah – seit einem Jahr gab es keinen solchen lebensgefährlichen Schub mehr.

Ein Geflüchtetenschicksal

Drei Jahre hatte sie es im sudanesischen Khartum ausgehalten. Osman – mittlerweile verantwortlich für die elektrische Betreuung der Notenpressen der Zentralbank von Sudan – war nach einer Morddrohung durch Anhänger des Diktators Omar Al-Baschir geflohen. Er musste lange warten, bis er endlich eine Anerkennung als Geflüchteter bekam – »subsidiärer Schutz«, die zweitschlechteste Kategorie des Bleibens in Deutschland, nur noch unterboten vom »Abschiebeverbot«, das jede Hoffnung auf Familiennachzug zunichtemacht.

Osman ergreift jede Chance, eine Arbeit zu finden. Deutsch lernt er abends in freien Abendkursen, nach einer Maßnahme der Handwerkskammer findet er nach einiger Zeit eine feste Anstellung. Seine Ausbildung zum Elektriker in einer von Südkorea gestifteten und mittlerweile geschlossenen Berufsschule ist hier nichts wert. So wird er Helfer bleiben, ein Schicksal, das er mit vielen Geflüchteten teilt. Endlich – und das ist erst einmal das Wichtigste – kann er Geld schicken. Es gibt etwas Hoffnung, doch da bricht der Bürgerkrieg im Sudan aus, niemand, schon gar keine Mutter mit zwei Kindern, ist des Lebens mehr sicher.

Osmans Bewilligung des subsidiären Schutzes fällt genau auf den Zeitpunkt, an dem die Deutsche Botschaft Khartum geschlossen wird. In Deutschland wird der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt. Vor die Alternative »Deutsche Botschaft Nairobi oder Deutsche Botschaft Addis Abeba« gestellt, entscheidet sich die Familie für Addis Abeba. Doch es gibt keinerlei Nachricht aus Deutschland, wie es nun mit ihrem Visaantrag weitergehe. Es sind vermutlich etwa 40.000 derartige Anträge, die im Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten (BfAA) registriert sind. 1.000 werden pro Monat positiv beschieden, was rechnerisch eine durchschnittliche Wartezeit von etwa zwei Jahren ergibt. Eine trostlose Perspektive.

Weihnachten nimmt Osman seinen Jahresurlaub und besucht die Familie. Sein jüngerer Sohn lernt endlich seinen Papa zum ersten Mal so richtig kennen – und er ihn. Ihre Freude wird beim Abschied überschattet von quälender Angst. Aber sie schaffen es, ihre Pässe und den legalen Aufenthalt in Äthiopien zu verlängern. Wehe, wenn sie diesen verlieren: Zigtausende Dollar Strafe drohen Illegalisierten dort, eine Ausreise trotz Visa wäre nicht mehr möglich.

Endlich gibt es Hilfe durch die Internationale Organisation für Migration (IOM), die für Deutschland eine Art »Vorsortierung« betreibt. Einen Tag, bevor die diesjährige Vorschlagsliste für Visa nach Deutschland geschlossen wird, wird ihr Fall eingetragen. Die Botschaft stellt immer neue Fragen: Waren sie schon vor Osmans Flucht verheiratet? Sind es seine Kinder? Warum hat nicht ihr Vater die Heiratsurkunde unterschrieben, sondern sein Schwager? (Er lag mit einem Malariaanfall im Bett.) Wo sind die Originale der Urkunden? Alhamdulillah – ihr Vater lebt, es gibt Internet und dort sind noch rudimentäre staatliche Strukturen vorhanden, über die eidesstattliche Erklärungen, notarielle Beglaubigungen und staatliche Bestätigungen besorgt werden können. Es werden auch fliegende Boten beauftragt, Dokumente hin und her zu bringen, Sudanesen, die in ähnlicher Lage verzweifelt versuchen, ebenfalls ihre Familien nach Deutschland zu bringen. Schließlich ist aus Sicht der Botschaft der Fall positiv zu entscheiden. Sie bestätigt, dass nach allem kein Zweifel an der gültigen Heirat im Jahr 2011 bestehe.

Der Widerstand der Ausländerbehörde ist nur kurz: Weder sind Wohnraum noch Sprachkenntnisse in diesen Fällen Voraussetzung. Doch dann beginnt Ende April das erneute Warten. Ihre psychische Verfassung verschlechtert sich, sie verliert Gewicht, hat Alpträume, verträgt das äthiopische Essen nicht. Um sie herum erhalten immer wieder Menschen ihre Visa. Warum sie und ihre Kinder nicht?

In der Warteschleife

Osman bittet einen deutschen Freund, doch in der Botschaft anzurufen. Diese hat dienstags und donnerstags jeweils von 8.00 bis 8.30 Uhr ein »Telefonfenster«. Monate später, am 1. August, kommt dieser endlich durch. Die Fälle sind im dortigen Computersystem eingetragen. Er möge doch eine erneute, bisher stets unbeantwortete Sachstandsanfrage stellen. Doch noch bevor er vor Wut in die Tischkante beißen kann, kommt zwei Minuten später die Nachricht: Die Visa stünden »ohne Termin« zur Abholung bereit. Es hat ganz den Anschein, als müsse ein Deutscher etwas Druck aufbauen, damit aus einem Stapel von Visa eines herausgezogen wird. Wie viele mögen dort noch liegen und vermodern, nur weil niemand energisch und mit Unterstützung eines Weißen nachfragt?

Doch nach dem ersten siebenstündigen erfolglosen Warten an der »Außenwache« vor der Deutschen Botschaft geht sie desillusioniert nach Hause. In Deutschland werden Pläne geschmiedet, was noch getan werden könne. Es wäre ja nicht der erste Skandal vor den Türen einer Deutschen Botschaft. Islamabad und Beirut sind nur zwei Beispiele für gekaufte Visa und Termine. Die Spannung nach einem zweiten Telefonat am frühen Morgen – mit der Forderung, dass sie aber dieses Mal endlich von der Security auch durchgelassen werde – lässt alle Beteiligten an nichts anderes mehr denken. Da endlich der erlösende Anruf: Sie wurde vorgelassen.

Die Pässe werden, ohne eine Quittung dafür zu bekommen, abgenommen. Sie würde Nachricht bekommen. Noch einmal eine Woche Angst ohne Pässe, Angst vor jeder Polizeikontrolle, vor Ereignissen wie in Khartum, als die Botschaft geschlossen wurde und Hunderte zu »Sans-Papiers«, »Papierlosen«, wurden. Doch endlich: Nach fünf Tagen bekommt sie die Pässe mit den Visa zurück, einige Tage später auch die Ausreisestempel und am 27. August kann sie ins Flugzeug steigen.

Ein Nackenschlag

Der deutsche Freund hat es geschafft, in den Ankunftsbereich vorzudringen und kann sie und die Kinder am Gepäckband in Empfang nehmen. Während sie auf die Koffer warten, stürmen die beiden Kleinen durch den Ausgang in die Arme des Vaters. Sie folgt später. Alle Koffer sind da. Endlich wieder zusammen. Auch wenn es sich bei der gemeinsamen Bleibe vorerst nur um einen Container handelt. Mit zwei Doppelstockbetten. Im Nirgendwo, weitab von allem. Mit einer »Monatsgebühr« von über 2.100 Euro.

Eine erste Absage einer Wohnung wird so begründet: »Leider können wir Ihnen die o. g. Immobilie nicht anbieten, da Ihre Angaben nicht mit dem Suchprofil des Vermieters übereinstimmen.« Im nächsten Monat wird es etwas besser werden: Sie werden »umgesetzt« in eine Wohnung in der Stadt, wo sie sich die Küche mit einer syrischen Flüchtlingsfamilie teilen werden, wo Supermärkte, Bankfilialen und ÖPNV-Haltestellen fußläufig erreichbar sind. Und auch eine Schule.

Ein weiterer Nackenschlag ist der Eintrag im Melderegister: Nachdem die Deutsche Botschaft Addis Abeba in wochenlangem Austausch von Dokumenten keinerlei Zweifel mehr hatte, dass die beiden Eltern verheiratet und die Kinder ihre ehelichen Kinder seien, trägt die Gemeinde trotz korrekter Meldung des Ausländeramtes bei ihr den Familienstand »unbekannt« in das Melderegister ein.

Hintergrund: IOM und UNHCR

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) ist eine UN-Einrichtung, die Unterstützung bietet für Geflüchtete, Binnenflüchtlinge und Arbeitsmigranten. 1951, zu Beginn des Kalten Krieges, wurde die IOM von den USA und 15 Verbündeten als »Provisorisches Zwischenstaatliches Komitee für die Auswanderung aus Europa« (PICMME) gegründet. Das PICMME, aus dem die IOM später hervorging, wurde zunächst bewusst außerhalb der UN angesiedelt, um es vor »kommunistischen Einflussnahmen« zu schützen. Mit Ausnahme von zwei Europäern hatte die IOM immer US-amerikanische Generaldirektoren. Sie hat eines ihrer Hauptbüros in Addis Abeba. Seit der Einbettung ins UN-System zählt die IOM zu den zentralen Akteuren in der humanitären Hilfe, insbesondere im Kontext von Vertreibung. Zu den wesentlichen Aufgaben der IOM gehören Unterbringung, Bereitstellung medizinischer und sanitärer Grundversorgung, Lebenssicherung sowie Koordination, Telekommunikation und Logistik. Die Bundesrepublik Deutschland hat Vereinbarungen mit der IOM in bezug auf Visaerteilungen.

Auf Weisung des UN-Nothilfekoordinators (ERC) ist die IOM in humanitären Notlagen zusammen mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hauptverantwortlich für die Koordination und Verwaltung von Camps, die Geflüchteten elementaren Schutz bieten sollen. Zudem ist es Aufgabe der Campverwaltungen, unter anderem Ersatzpapiere für die Bewohner auszustellen. Wo es geht, werden Schulunterricht und ärztliche Betreuung zur Verfügung gestellt. Doch in Äthiopien gibt es keine UNHCR-Lager mehr. Die Betreuung Geflüchteter wurde an äthiopische Behörden übergeben, die im eigenen Land aber Partei in den verschiedenen bürgerkriegsähnlichen Konflikten sind. Geflüchtete aus »missliebigen« Gegenden Äthiopiens und solche aus anderen Ländern wie dem Sudan erhalten in Äthiopien keinerlei Betreuung mehr. Ähnliches wird auch aus der Türkei berichtet, wo sich das UNHCR zurückgezogen hat. Ein wesentlicher Grund für den Rückzug des UNHCR in verschiedenen Ländern ist auch die chronische Unterfinanzierung: So betrug diese im letzten Jahr etwa 55 Prozent. Im Ranking der Geberländer ist Deutschland im Jahr 2024 gegenüber 2023 vom zweiten auf den neunten Platz abgerutscht. Es bleibt wenig Hoffnung, dass sich dies im Rest des Jahres ändern wird. (es)

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (10. September 2024 um 09:17 Uhr)
    Diese Geschichte einer sudanesischen Flüchtlingsfamilie ist eine schmerzliche Erinnerung daran, was die vielbeschworene Werteleitung deutscher Politik wirklich wert ist, wenn es darauf ankommt. Anderen Ländern mit ausgestrecktem Zeigefinger in der Nase bohren und dazu »Menschenrechte« und »Freiheit« zu rufen: Das können unsere Regierenden hervorragend. Wirkliche Not zu erkennen und zu lindern ist ihre Stärke nicht. Sie brauchen ihr gesamtes Gehirnschmalz jetzt, um Migranten an den Grenzen abzuwehren oder sie wieder hinauszuwerfen. Die dafür notwendigen Verordnungen müssen schließlich mit der gewohnten deutschen Präzision geschrieben werden. Not und Elend werden in ihnen keinen Platz finden. Mut macht allenfalls, dass es offensichtlich unter den ausführenden Beamten auch solche gibt, die ein Herz haben und Mitgefühl beweisen. Auch wenn sie sich dabei in krassem Gegensatz zu ihren politischen Vorgabegebern befinden. Wir sollten nie übersehen, dass es auch im Staate so’ne und solche gibt.

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