Kreuz oder Zahnlücke
Von Ralf WurzbacherPatient beim Arzt: »Herr Doktor, mein Zahn schmerzt.« Antwort: »Sind Sie denn immer schön wählen gegangen?« Ohne Spaß: Nach Plänen des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) soll bei der Verteilung der Versichertenbeiträge an die Krankenkassen künftig auch die regionale Wahlbeteiligung eine Rolle spielen. Wo 2021 beim bundesweiten Urnengang weniger Menschen ihr Kreuzchen machten, gäbe es dann auch weniger Geld für die allgemeine Gesundheitsversorgung. Was wie ein schlechter Scherz anmutet, ist ernst gemeint und sorgt insbesondere in Sachsen-Anhalt für Wirbel. Bereits in der Vorwoche hatte die örtliche AOK Alarm geschlagen. Bei Umsetzung entgingen den Kassen im Land rund 50 Millionen Euro.
Die Magdeburger Volksstimme bat am vergangenen Mittwoch bei der Bundesbehörde um eine Erklärung und erhielt Rückmeldung. »Wie sich gezeigt hat, steht die Wahlbeteiligung in einem statistisch signifikanten Zusammenhang zu der Höhe der sich auf Ebene der Kreise ergebenden Über- und Unterdeckungen.« Die Auswahl des Kriteriums sei Ergebnis eines komplexen Prozesses und leite sich aus Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats ab, der das BAS berät. Allerdings gibt es gleichlautende Aussagen seitens des SPD-geführten Sozialministeriums und der FDP-Fraktion im Landtag, wonach das Gremium wegen rechtlicher Bedenken schon frühzeitig davon abgeraten habe, den Faktor bei der Mittelzuweisung hinzuzuziehen. Kritik kommt auch von den Konservativen, die mit Reiner Haseloff den Regierungschef stellen. Weil vor allem freiwillige Leistungen wie Zahnreinigung oder Rückenschulkurse demnächst auf der Kippe stehen könnten, drohten höhere Beiträge oder Kürzungen beim Angebot, warnte der CDU-Abgeordete Tobias Krull. Das Vorhaben sei »mehr als unverständlich«.
In dem ostdeutschen Bundesland ist der Unmut deshalb so groß, weil sich dessen Einwohner vor drei Jahren mit einer Beteiligung mit nur 67,9 Prozent bei bundesweit 76,4 Prozent ziemlich wahlmüde gezeigt hatten. Sie wären damit die großen Verlierer bei der Vergabe der Mittel aus dem Gesundheitsfonds auf Basis des sogenannten Risikostrukturausgleichs (RSA). Dabei soll der RSA eigentlich verhindern, dass Krankenkassen wegen ihrer ungünstigen Versichertenstruktur – vermehrt Menschen in höheren Alter und mit Vorerkrankungen – finanziell benachteiligt werden. 2021 wurde das Regelwerk reformiert, mit der Folge, dass seither auch Merkmale ohne direkten Gesundheitsbezug Berücksichtigung finden, darunter etwa Sterbekosten oder die Zahl kleiner und mittlerer Unternehmen. Der Punkt Wahlbeteiligung steht nun in einem Konzeptpapier des BAS, das am 30. September beschlossen werden soll.
»Man kann nur noch staunend den Kopf schütteln bei den skurrilen Ideen, die der Gesundheitspolitik einfallen, um die absurden Auswüchse des Wettbewerbs unter den Krankenkassen einzudämmen«, äußerte sich am Montag Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsgruppe Die Linke. Es verhalte sich genau andersherum: »Von Armut betroffene Menschen gehen seltener wählen, sind aber öfter und schwerer krank«, sagte sie junge Welt. »Wir brauchen einen grundlegenden Wandel weg von einem profitorientierten Gesundheitssystem«, bekräftigte Vogler, »und ganz sicher haben politische Vorgaben im RSH absolut nichts zu suchen«. Tatsächlich wird der Vorgang auf rechtspopulistischen Kanälen schon als Bestrafung für nicht genehmes staatsbürgerliches Verhalten verhandelt.
Wie die Volksstimme schrieb, sollen ausgerechnet Merkmale mit eindeutigem Gesundheitsbezug, nämlich Fallzahlen zu »Stationäre Pflege« oder »Pflegebedürftige«, aus dem RSA-Katalog weichen. Von einer AOK-Sprecherin kam hingegen der Vorschlag ans Gesundheitsministerium, den Fokus stärker auf eben diese vulnerablen Gruppen zu richten, zum Beispiel »Zuzahlungsbefreite oder Bürgergeldempfänger«. Bereits im Januar hatte Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) in einem Brief an Bundesminister Karl Lauterbach (SPD) eine dahingehende Neujustierung gefordert. Die blieb offenbar bis heute aus.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Fjerritslev (9. September 2024 um 21:05 Uhr)Wie wäre es, den esoterischen Unfug Homöopathie nicht mehr über die Krankenkassen zu finanzieren? Auf die Schnelle habe ich leider keine diesbezügliche Gesamtsumme gefunden.
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