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Aus: Ausgabe vom 10.09.2024, Seite 8 / Ansichten

Berliner Wunschdenken

Friedensgespräche im Ukraine-Krieg
Von Reinhard Lauterbach
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Bundeskanzler Olaf Scholz (r.) und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij

Schon in den Märchen der Brüder Grimm waren die »Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat« lange vorbei. Insofern ist es zwar sicherlich wünschenswert, dass das Töten und Zerstören in der Ukraine zu einem Ende kommt. Schön, dass auch Olaf Scholz jetzt den Reiz des Friedens entdeckt hat und »darüber nachdenken« lassen will, wie »wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen, als das gegenwärtig den Eindruck macht«. Immer dieses vereinnahmende sozialdemokratische »Wir«. Der Witz an dieser Aussage aber ist das »doch«. Denn an dem Widerspruch, den das Wörtchen andeutet, hat Scholz mit seiner Parteinahme – nicht für den Frieden, sondern für eine der Kriegsparteien – seinen verdienten Anteil: als zweitgrößter Waffenlieferant der Ukraine, worauf er bei anderer Gelegenheit stolz zu sein scheint.

Hoffen wir mal, dass der Eindruck täuscht, Olaf Scholz reagiere mit dieser Aussage auf das Interview des ehemaligen Botschafters der Ukraine in Berlin, Andrij Melnyk, mit der Berliner Zeitung vom Wochenende. Das klang schon ein bisschen wie eine Erlaubnis aus Kiew, mal wieder das F-Wort in den Mund zu nehmen. Jetzt, im nachhinein, macht sich Olaf Scholz eher lächerlich, und die Antwort aus Moskau kam auf dem Fuße: Man höre aus Europa »verschiedene Aussagen, aber keine aus dem Land, das diesen Prozess steuert, das den kollektiven Westen dirigiert«. Nämlich den USA. Und von dort ist vor Januar, wenn Kamala Harris oder Donald Trump ihr Amt antreten werden, nichts zu erwarten. Wäre es anders, wäre bereits dies eine Imagepleite für die westliche Führungsmacht: Sie müsste zugeben, dass es ihr eilt, und dass ihr Konzept gescheitert ist, den auf ukrainischem Boden und mit ukrainischem Leben ausgefochtenen Krieg in die Länge zu ziehen, bis Russland daran zugrunde geht – dass es die Ukraine tut, war einkalkuliert. Dieser politische Konkurs muss noch ein bisschen verschleppt werden.

Wie er eingefädelt wurde, hat jetzt Victoria Nuland angedeutet. Nach ihrer Darstellung hat die Ukraine im Frühjahr 2022, als die Umrisse eines Friedensabkommens schon auf dem Tisch lagen, bei den USA um »Beratung« gebeten, wie sie weiter vorgehen solle. Die US-Vertreter hätten Kiew deutlich gemacht, dass das Land im Falle eines Vertragsabschlusses »militärisch neutralisiert« und »kastriert« worden wäre. Nuland sagte nicht explizit, dass die USA der Ukraine verboten hätten, Frieden zu schließen, aber der indirekte Hinweis muss gereicht haben. Die Kiewer Regierung wusste offenkundig, dass das ganze Interesse des kollektiven Westens an der Ukraine und ihrem politischen Überleben daran geknüpft war, dass das Land genau jener militärische Vorposten gegen Russland sein und bleiben sollte, als den Wladimir Putin die Ukraine 2022 wahrnahm und deshalb den Krieg in seine offene Phase überführte.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. September 2024 um 10:33 Uhr)
    Bundeskanzler Scholz hat signalisiert, dass er die Bemühungen um Frieden in der Ukraine intensivieren möchte. Er betonte, es sei notwendig, zu diskutieren, »wie wir schneller aus dieser Kriegssituation zu einem Frieden gelangen können, als es derzeit den Anschein hat«. Diese Äußerung sollte jedoch nicht als Kurswechsel in der Ukraine-Politik missverstanden werden. Seit Beginn des Krieges verfolgt Scholz einen zweigleisigen Ansatz: Einerseits unterstützt er die Ukraine, solange es nötig ist, andererseits hält er die Tür für Verhandlungen offen – jedoch zu westlichen Bedingungen. In Gesprächen mit den Verbündeten der Ukraine hebt Scholz die deutschen Waffenlieferungen hervor, während er im Wahlkampf in ostdeutschen Bundesländern den defensiven Teil seiner Ukraine-Politik betont. Doch diese Strategie wirkt inkohärent. Warum sollte der Kreml auf einen deutschen Friedensvorschlag reagieren? War es nicht Deutschland, das bei den Minsker Abkommen als Garant versagt hat? Berlin hat das Vertrauen verspielt, zumal es laut Merkels Aussage die Abkommen missbraucht hat.
    • Leserbrief von Wieland König aus Neustadt in Holstein (10. September 2024 um 17:04 Uhr)
      Danke an Herrn Istvan Hidy für den fast wortgerechten inhaltlich deckungsgleichen Kommentar zum Artikel. Das sind Kommentare, die journalistisch wegweisend sind, Hauptsache, man kann seinen Namen täglich in der jungen Welt lesen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (10. September 2024 um 07:15 Uhr)
    Der US-Senator Lindsey Graham bezifferte den Wert der ukrainischen Bodenschätze mit 10–12 Billionen US-Dollar: »Zu viel um es mit Russland und China zu teilen«, sagte er (Merkur vom 20.06.2024). Das meiste davon soll im Donbass liegen. Deshalb ist aus den USA kein Wort zu den leisen Tönen aus Berlin und aus Moskau zum Thema Friedensverhandlungen zu hören. Man will sich um den Preis eines zerstörten Landes, von Hunderttausenden Toten diese Rohstoffe sichern. Kriege toben nur in den Regionen, wo es Öl und andere Bodenschätze gibt. Selbst der Gaza-Krieg wird sich erst beruhigen, wenn der Besitz des Gasfeldes im Mittelmeer vor der Küste des Gaza-Streifens geklärt ist. Ich verweise auf das Zitat von Thomas Dunning, welches Marx selbst auch zitierte: »Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit …« Doch warum hat nun der Bundeskanzler auf einmal seine Friedensliebe entdeckt? Es liegt sicherlich nicht nur an dem Melnyk-Interview. Der Souverän, also das Volk, hat diese Politik am 01.09.2024 in Sachsen und Thüringen abgestraft, dabei war sicherlich ein gehöriges Maß an Friedenswille ausschlaggebend. Die Erfolge der angeblichen Friedenspartei AfD trüben den Erfolg für BSW und andere erheblich. Aber das Signal scheint anzukommen, denn die SPD muss am 22.09. damit rechnen, ihren MP Woidke in Brandenburg zu verlieren. Alles spricht dafür. Also reines Wahlkampfgetöse? Ich hoffe es nicht. Diese Äußerungen von Scholz könnten dem BSW die Türen in mindestens zwei Landesregierungen öffnen, da auf einmal das Thema Frieden in den Fokus rückt. Nun fehlt nur noch ein positives Nachdenken über die Sinnhaftigkeit der neuerlichen Raketenstationierung. Wenn man unter diese Rechnung nun einen Strich zieht und statt der immer weiteren Hochrüstung der Ukraine dieses verschwendete Geld im Haushalt für 2025 umschichtet, dürfte das 12-Milliarden-Loch verschwinden. Dazu muss man nicht Finanzminister sein, sondern nur den gesunden Menschenverstand walten lassen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (9. September 2024 um 20:54 Uhr)
    Die Tatsache, dass der Istanbuler Vertragsentwurf vom Westen torpediert wurde, ist ja lange Zeit von einschlägiger Seite bestritten worden. Aber auch hier gilt der legendäre Satz von Mark Twain, dass »eine Lüge bereits dreimal um die Erde gelaufen ist, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht«. Aber letztlich kommt ans Tageslicht, was politische Beobachter schon immer wussten. Der Westen, insbesondere seine Führungsmacht, hatte kein Interesse am Frieden und das Kiewer Faschistenregime, vollständig finanziell und materiell abhängig, führte den Befehl zum totalen Krieg gegen Russland aus. Wenn der SPD-Kanzler Scholz, der sein Land zum zweitgrößten Waffenlieferanten und damit zum indirekten Kriegsteilnehmer gemacht hat, nun über »Frieden« faselt, dann entlockt das in Moskau der politischen Führung nur ein müdes Grinsen.

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