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Aus: Ausgabe vom 10.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Aus dem Reihenhaus

Glücksfall autofiktionaler Prosa: Martin Beckers Roman »Die Arbeiter«
Von Werner Jung
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»Arbeit taktet die Tage durch, bis sie stottern, bis sie gezählt sind« – Martin Becker

Martin Becker hatte 2017 in seinem Roman »Herbstlicht« von seiner Herkunft aus dem Ruhrgebiet und dem Aufwachsen in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg erzählt. Nun hat er in »Die Arbeiter« erneut auf seine Familiengeschichte zurückgegriffen und liegt damit sicher voll im Trend autofiktionaler Prosa, die schon seit Jahren durch die deutsche Gegenwartsliteratur wabert. Eine Mode, die in ihren schlechten Beispielen vom Desinteresse an gesellschaftspolitischen Vorgängen zeugt, in den besseren Fällen aber die Zusammenhänge zwischen subjektiven Befindlichkeiten und objektiven Bedingungen zu verdeutlichen versteht.

Beckers Roman gehört zu den Glücksfällen autofiktionalen Erzählens. Denn im Wechsel der Töne, den er meisterhaft beherrscht, verliert sich der Erzähler weder im apologetischen Verklären von Herkunft und Vergangenheit oder elegischer Klage über deren Verlust noch in ihrer drastischen Zurückweisung oder gar einer Rundumabrechnung.

Der literarische Mehrwert von Beckers Erzählen entsteht an den Bruchkanten, die seine Sozialisation geprägt haben. Dabei hebt er in seinem neuen Buch im Unterschied zum Roman »Marschmusik« von 2019, wo der Gegensatz zwischen dem Ruhrgebiet und dem ländlichen Sauerland im Mittelpunkt steht, die familiäre Konstellation heraus: »Meine Mutter wird im September 1946 in Essen-Kupferdreh geboren.« Der Vater dann: »Mein Vater wird im Februar 1940 geboren und wächst in einem Zechenhaus in Bochum-Werne auf. Von seinem Vater hat er nicht viel, der muss in den Krieg, obwohl er den Hitler hasst.«

Diese beiden Menschen finden zueinander, gründen eine Familie, die am Ende vier Kinder zählt – eine adoptierte, behinderte Tochter, ein im Kindbett verstorbenes Baby und zwei gesunde Jungen. Das Milieu kleinstädtisch, »aus dem Reihenhaus«. »Das sind wir. Mit Unterhemd, Sonnenbrand und Kippe auf dem Zahn. Mit glasigem Blick an Weihnachten und heiligem Ernst zur Konfirmation.« Heißt es in den ersten Sätzen des Prologs, der dann so endet: »So vergehen die Achtziger und die Neunziger (…) Mein Vater stirbt. Meine Mutter stirbt. Und dann auch noch eins von ihren Kindern. Das waren wir. Eine Familie aus der Vergangenheit. Aus der Kleinstadt, aus dem Reihenhaus. Das nie ganz uns gehörte. Wie alles. Ohne Geld, mit geringer Lebenserwartung. Arbeit taktet die Tage durch, bis sie stottern, bis sie gezählt sind.«

Was dann in Beckers Roman auf knapp 300 Seiten folgt, sind Episoden aus einem beschwerlichen Leben, die keiner Chronologie folgen. Ereignisse (wie die Krankheiten der Eltern, geplante und durchgeführte Urlaube an der Küste), die in Vor- und Rückgriffen thematisiert werden. Und: »Geld als Lebensthema. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die folgenden Jahrzehnte, Hochgefühle und Krisenlagen. Es genügt hinten und vorne nicht.«

Im harten Gegenschnitt zu den proletarisch-kleinbürgerlichen Lebensläufen der Eltern dann die Gegenwart des Erzählers mit Partnerin und Kind, irgendwo im sogenannten bürgerlichen Mittelstand angekommen, aber doch irgendwie auch einerseits mit der Scham und Bürde seiner Herkunft belastet, andererseits vom dringenden Bedürfnis beherrscht, sich gerade an dieser Herkunft abzuarbeiten – und das mit einer nahezu positivistischen Akribie, wie es über »Marschmusik« seinerzeit in einer geglückten Würdigung geheißen hat, damit, wie Becker an einer Stelle seines überzeugenden neuen Romans selbst schreibt, die Geschichte seiner Familie »nicht verloren geht«.

Martin Becker: Die Arbeiter. Luchterhand-Verlag, München 2024, 302 Seiten, 22 Euro

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