Zeitraubende Verpflichtungen
Von Holger RömersAm Montag dürfte Ben O’Connor (Decathlon – AG2R La Mondiale-Team) ein paar Bier getrunken, auf der Terrasse gesessen und sich entspannt haben. Solche Absichten verband der 28jährige Australier jedenfalls mit dem ersten freien Tag nach Abschluss der 79. Vuelta a España, als er am Freitag von einer TV-Reporterin nach seinen spontanen Gedanken gefragt wurde. Da hatte er das rote Trikot, das er so lange tapfer verteidigt hatte, gerade an den sechs Jahre älteren Slowenen Primož Roglič (Red Bull – BORA – Hansgrohe) verloren. Der stellte dann am Sonntag beim vom 30jährigen Schweizer Stefan Küng (Groupama-FDJ) gewonnenen Zeitfahren seinen vierten Gesamtsieg bei der Spanien-Rundfahrt sicher. O’Connor durfte sich derweil trösten, immerhin Rang zwei in der Gesamtwertung gegenüber dem das Abschlusspodium komplettierenden 29jährigen Spanier Enric Mas (Movistar Team) verteidigt und eine Karrierebestleistung bei einer Grand Tour erzielt zu haben.
Da am Wochenende mutmaßlich eine Lebensmittelvergiftung in den Reihen von Red Bull wütete, hatte es vorübergehend so ausgesehen, als würde der Topfavorit womöglich noch um den Gesamterfolg gebracht. Alexander Wlassow und Daniel Felipe Martínez hatten am Freitag so nachhaltig das Tempo verschärft, dass sie und ihr Kapitän am Schlussanstieg zu dritt den Konkurrenten davonfuhren, bevor Roglič solo Tagessieger wurde. Am Sonnabend geriet der Russe dagegen schnell ins Hintertreffen, während der Kolumbianer – wie zwei andere Kollegen auch – das Rennen sogar beenden musste. Unter diesen Vorzeichen schien es vieldeutig, dass Roglič das späte Ausreißen Eddie Dunbars (Team Jayco AlUla) aus der Favoritengruppe nicht mit einem seiner gewohnten Bergsprints konterte, sondern den 28jährigen Iren einen zweiten Etappensieg erringen ließ.
Am Sonntag gab in Gestalt von Florian Lipowitz ein weiterer Red-Bull-Fahrer plötzliches Unwohlsein zu Protokoll. Das hinderte den 23jährigen Deutschen allerdings nicht, seinen siebten Gesamtplatz zu sichern, auch wenn er sich im Kampf ums weiße Trikot des besten Jungprofis dem gleichaltrigen Dänen Mattias Skjelmose (Lidl – Trek) geschlagen geben musste, der im Gesamtklassement auf Platz fünf landete – hinter dem 31jährigen Ecuadorianer Richard Carapaz (EF Education – EasyPost) und vor dem 27jährigen Franzosen David Gaudu (Groupama-FDJ). Roglič blieb indes von der im Team grassierenden Unpässlichkeit verschont. Oder überspielte sie um so beeindruckender mit Platz zwei im Zeitfahren.
Dass man zweieinhalb Wochen zuvor einen soliden Konkurrenten als Ausreißer zu einer stattlichen Gesamtführung hatte kommen lassen, musste Red Bull also nicht bereuen. Allerdings hatte Roglič seinen Rückstand schon am Dienstag auf der vom 30jährigen Spanier Marc Soler (UAE Team Emirates) solo gewonnenen Etappe auf überschaubare fünf Sekunden verringert. Am selben Tag bestätigte sich, welchen praktischen Vorteil es bedeutete, von den zeitraubenden Verpflichtungen entbunden zu sein, die mit dem roten Trikot einhergehen: O’Connor war nämlich irgendwie dem Irrtum aufgesessen, dass Podiumszeremonie, Dopingtest und Pressekonferenz unterhalb des nebelverhangenen Zielortes stattfinden würden, und zu diesem Zweck auf dem Rad ins Tal hinabgerollt – nur um dann im Mannschaftsauto die Bergstraße noch einmal erklimmen zu müssen.
Denselben Tag hatte Wout van Aert (Team Visma – Lease a Bike) als schier uneinholbarer Punktbester im grünen Trikot begonnen. Doch obwohl gut 24 Stunden später die letzte Sprintankunft bevorstand, die dem belgischen Alleskönner realistische Aussichten auf einen vierten Etappensieg bot, entschied der 29jährige sich, in einer Ausreißergruppe seinen gleichzeitigen Vorsprung in der Bergwertung auszubauen. Diese tollkühne Kraftverschwendung wurde leider mit einem Sturz sowie einer Kniewunde bestraft, die so tief war, dass sie ihn nicht nur das Rennen, sondern seine Saison beenden ließ. Der 25jährige Australier Kaden Groves (Alpecin – Deceuninck) konnte indes am Mittwoch seinen dritten Sprintsieg erzielen und sicherte sich schließlich den Gewinn der Punktewertung.
Sein drei Jahre älterer Landsmann Jay Vine (UAE Team Emirates) bekam wiederum das gepunktete Trikot des besten Bergfahrers, wobei bezeichnend war, dass mit Soler ausgerechnet ein Kollege für Konkurrenz in dieser Sonderwertung sorgte. Mehrfach stellte sich der Verdacht ein, dass in der Mannschaft jeder für sich fuhr, seit João Almeida wegen einer Covid-Infektion früh als Zweitplazierter aus dem Rennen gestiegen war. Entsprechend ironisch wirkte, dass ausgerechnet UAE kollektiv für die beste Teamleistung ausgezeichnet wurde.
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