Wertebasierte Perspektive
Von Wiebke DiehlWenn Israel Menschen tötet, sind es immer Terroristen. Das ist offenbar das Credo von Leuten wie Ulf Poschardt, der am Dienstag von »Next Level Terrorbekämpfung« fabulierte. Zwar waren zwei der Opfer Hunderter im Libanon explodierter Pager, die Israel mit Sprengstoff versehen hatte, Kinder. Und Bilder und Videos verdeutlichen, dass die manipulierten Funkgeräte größtenteils unter Zivilisten – auf offener Straße oder an der Supermarktkasse – explodierten. Aber wer die israelische Kriegführung in Gaza allen Ernstes als »Verteidigung« verharmlost, findet auch solche »Kollateralschäden« akzeptabel. Der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden hingegen bezeichnete Israels Vorgehen auf X als »rücksichtslos«. Es sei »nicht von Terrorismus zu unterscheiden«. Snowden schrieb zudem, es sei ein »schrecklicher Präzedenzfall« geschaffen worden.
Das Vorgehen Israels vom Dienstag war ein eindeutiger Verstoß gegen die Genfer Konventionen von 1949. Demnach sind Angriffe, die sich nicht gegen spezifische militärische Ziele richten oder deren Auswirkungen nicht eingegrenzt werden können, nicht zulässig. Welchen Aufschrei gäbe es, wenn die Hisbollah in Israel Hunderte elektronische Geräte zur Explosion brächte und damit einen Massenmord willentlich in Kauf nähme? Aber wundern sollte sich über die Einseitigkeit keiner: Deutschen Medien ist es auch noch nicht einmal eine Randnotiz wert, wenn »unsere« ukrainischen »Verbündeten« vor wenigen Tagen – eindeutig völkerrechtswidrig – einen russischen Militärstützpunkt mitten in Syrien angreifen. Völkerrechtswidrige Angriffe bewertet der »wertebasierte« Westen nun einmal unterschiedlich. Dass ukrainische Spezialkräfte in Idlib Terrorgruppen trainieren, hat ebenfalls noch niemand aus westlichen Medien vernommen. Es kommt eben immer auf die Perspektive an.
Wer es gut mit Israel meint, sollte allerdings – unabhängig davon, welch schizophrene Sicht er einnimmt – endlich auf Mäßigung drängen. Denn Tel Aviv unterschätzt, dass die Zeit des Schaltens und Waltens längst vorbei ist. Der israelische General der Reserve, Jitzhak Brik, der lange vor dem 7. Oktober vor einem entsprechenden Szenario gewarnt hatte, wies am Dienstag in einem Kommentar in Haaretz erneut darauf hin, dass die Hisbollah »hundertmal mächtiger als die Hamas« sei, die Israel auch nach fast einem Jahr Krieg nicht habe besiegen können. Eine Bodenoffensive im Libanon werde zudem wahrscheinlich zu Bodenkriegen an fünf Fronten führen – an der jordanischen und libanesischen Grenze, auf den besetzten syrischen Golanhöhen, im Westjordanland und im Gazastreifen. Tel Aviv streue der Öffentlichkeit nicht nur »Sand in die Augen«, es gefährde auch »unsere Existenz«, so Briks eindringliche Warnung, die Israels Freunde ernst nehmen sollten, wenn sie es ehrlich meinen.
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