Tanz auf der Rasierklinge
Von André WeikardFrau mit Bart, da war doch mal was. Ach ja, ein Grand-Prix-Sieger namens Conchita Wurst. Der Bart war echt, die Frau nur eine Kunstfigur, gespielt von einem österreichischen Travestiekünstler. Das verhält sich in Stéphanie Di Giustos Spielfilm »Rosalie« ganz anders. Das titelgebende Mädchen Rosalie (Nadia Tereszkiewicz) leidet an einer Hormonstörung. Äußerlich zeigt sich das an einem unbändigen Haarwuchs. Bart, Beine, Brust, überall sprießt es. Um das Mädchen dennoch unter die Haube zu bringen, rasiert der Vater (Gustave Kervern) sie penibel, verheimlicht dem künftigen Bräutigam das haarige Geheimnis seiner Tochter und blättert eine ordentliche Mitgift hin, um die Eheschließung schnell über die Bühne zu bringen. Der derart betuppte Abel (Benoît Magimel) bemerkt erst in der Hochzeitsnacht, wen er geheiratet hat. Weil er die Mitgift zu diesem Zeitpunkt schon ausgegeben hat, kann er auch die Frau nicht mehr zurückgeben. So ist das im späten 19. Jahrhundert in Frankreich, denn da spielt die Szene.
Also arrangieren sich die beiden. Getrennte Betten, getrennte Kammern. Muss. Doch Rosalie hat keine Lust, das Versteckspiel ihr Leben lang fortzusetzen. Sie will eine Frau mit Bart sein dürfen. Abel seufzt, Abel warnt. Aber die schmale Person mit dem großen Mut lässt sich nicht davon abbringen. Der Bart soll sprießen. Vielleicht belebt eine bärtige Wirtin ja sogar das Geschäft in der kleinen Taverne, die Abel betreibt …
»Rosalie« ist ein Tanz auf der Rasierklinge. Schon deshalb, weil die Geschichte immer in eines von zwei Extremen zu kippen droht. Mal hat es den Anschein, als würde die bärtige Frau von den Anwohnern der Arbeitersiedlung akzeptiert, als entwickle sich eine Komödie, dann wieder erfährt Rosalie Ablehnung, Gewalt, Beschimpfungen. Nicht nur von den Nachbarn. Auch von Abel. Weil beides aber so abrupt wechselt, häufig ohne nachvollziehbaren Grund, verliert der Zuschauer die Orientierung. Das ist schade. Denn das Setting der bretonischen Arbeiterhäuser, die entlang eines Kanals aufgereiht sind, ist stimmig. Hier lassen Uniformität und wildwüchsige Natur sich aufeinander ein. Auch die zarte Nadia Tereszkiewicz, die trotz Bartes Weiblichkeit ausstrahlt, macht glaubhaft, dass eine Lösung von Rosalies Not möglich ist, eine Symbiose scheinbarer Gegensätze, vielleicht gar eine Liebe zu Abel.
Der ist selbst körperlich entstellt. Trägt wegen einer Kriegsverwundung am Rücken ein stützendes Korsett, ja, genau, ein weibliches Kleidungsstück. Die Nähe zum Wasser ermöglicht Stéphanie Di Giusto zudem, immer wieder die Möglichkeit eines Suizids von Rosalie anzudeuten. Etwa wenn sie sich über die Brücke in den nahen Wald flüchtet. Wenn sie im weißen Kleid in einem Bach hockt wie die ikonische Ophelia und sich mit einem Stein das Haar vom Unterarm schabt. Und natürlich immer wieder dann, wenn sie mit dem Rasiermesser hantiert. Gleich bleibt bei allem Schwanken zwischen Trotz und Verzweiflung nur ihre Entschlossenheit, sich lieber die Pulsadern auf- als den Bart abzuschneiden.
Entgegen der unglaubwürdigen Motivation der Nebenfiguren, die kaum Profil haben, weiß der Film aber, worauf er zusteuert. Nämlich auf ein gelungenes offenes Ende, das die Balance hält. Die Balance auf der Rasierklinge.
»Rosalie«, Regie: Stéphanie Di Giusto, Frankreich/Belgien 2023, 116 Min., Kinostart: heute
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