Holland entdeckt den Arbeitskampf
Von Gerrit HoekmanAm Montag veröffentlichte die mit Abstand größte niederländische Gewerkschaft FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging) ihre Pläne für 2025. Sie tut das traditionell am Tag vor dem Prinsjesdag, an dem der König seine jährliche Thronrede hält. Die FNV will eine Lohnerhöhung von sieben Prozent, einen Mindestlohn von 16 Euro und im Gesundheitswesen und der Pflege eine Wochenarbeitszeit von 32 Stunden verteilt auf vier Tage durchsetzen. Die Gewerkschaft verlangt auch mehr unbefristete Arbeitsverträge, besonders in der Landwirtschaft, dem Gartenbau und den Vertriebszentren, wo die Jobs am unsichersten sind.
Verglichen mit Belgien oder Frankreich wird in den Niederlanden traditionell sehr selten gestreikt. 2023 war die Geduld der Gewerkschaften aber offenbar aufgebraucht. 53 Streiks bedeuteten die höchste Zahl seit über 40 Jahren. Jede und jeder Streikende erschien etwas mehr als acht Tage nicht auf der Arbeit. Ebenfalls länger als in den Jahren zuvor. Allerdings nahmen nur 17.400 Werktätige an den Streiks teil. Eine verschwindend geringe Menge. 2019 waren es noch 319.000 Menschen gewesen. Vergangenes Jahr setzten die Gewerkschaften offenbar gezieltere Nadelstiche.
»Es war notwendig, die Zähne zu zeigen«, erklärte Piet Fortuin, der Vorsitzende der christlichen Gewerkschaft CNV, am 1. Mai der Tageszeitung Het Parool zufolge. »Die Arbeitgeber wussten: Es war ernst. Und dann sind wir schnell wieder an den Tisch gegangen, um Vereinbarungen zu treffen.« Nur beim Schweizer Linoleumhersteller Forbo in Krommenie und der Supermarktkette Albert Heijn mussten die Beschäftigten länger streiken. »Andere Streiks dauerten einen Tag, und dann machten die Arbeitgeber ein besseres Angebot«, so Fortuin.
Das ist typisch für das niederländische »Poldermodell«, in dem seit dem Mittelalter gesellschaftliche Konflikte gerne im Konsens gelöst werden. Damals mussten alle zusammenarbeiten, um Deiche zu bauen und in Schuss zu halten – egal ob Adelige oder Bauern, Städter oder die Bevölkerung auf dem platten Land. Niederländisch kennt für das Finden von Kompromissen bis heute sogar ein eigenes Verb: »polderen«.
Der Grund für die aktuell relativ hohe Streikbereitschaft liegt in der hohen Inflation in den letzten beiden Jahren. Die Kaufkraft der Werktätigen sank um mehr als zehn Prozent. »Die Löhne hinken seit Jahren hinterher«, erklärte einer der stellvertretenden Vorsitzenden der FNV, Zakaria Boufangacha, am Montag laut der niederländischen Tageszeitung AD. Im nächsten Jahr wolle man sich darauf konzentrieren, »die Kaufkraft zu verbessern, anstatt nur die Kaufkraft zu erhalten«. In den letzten beiden Jahren habe die FNV in vielen Tarifverträgen die »Inflationslücke« geschlossen. Außerdem will die Gewerkschaft »dem Fachkräftemangel entgegenwirken«. Untersuchungen zeigten, dass eine Viertagewoche tatsächlich das Arbeitskräfteangebot erhöhe. Sie steigere die Produktivität, reduziere Fehlzeiten und mache Vollzeitarbeit attraktiver.
2023 erreichten die Gewerkschaften eine durchschnittliche Lohnerhöhung von sieben Prozent – der größte Zuwachs seit 40 Jahren. Obwohl die Gewerkschaften also Erfolge vorweisen können, sinkt der Organisationsgrad der arbeitenden Bevölkerung kontinuierlich. Zahlte 1993 noch fast ein Drittel aller Beschäftigten in die Gewerkschaftskasse ein, waren es 2023 nur noch 15 Prozent. Allein zwischen 2021 und 2023 verloren die Gewerkschaften 63.000 Mitglieder, wie das staatliche, niederländische Zentralbüro für Statistik (CBS) vergangene Woche veröffentlichte.
Die FNV glaubt jedoch, die Talsohle durchschritten zu haben. Seit einiger Zeit würden vor allem junge Leute der Gewerkschaft beitreten. »Wir haben immer noch viele Mitglieder. Und unsere Streikkasse ist voll, um noch sehr lange streiken zu können«, gab Kitty Jong, eine weitere stellvertretende Vorsitzende der FNV, am 9. September in der Onlineausgabe der öffentlich-rechtlichen NOS Entwarnung. Mehr Sorgen machen ihr die sogenannten gelben Gewerkschaften, die nur wenige Mitglieder haben. Sie werden überwiegend von Unternehmen gegründet und finanziert. Deshalb sind sie auch schnell mit schlechten Abschlüssen zufrieden.
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