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Aus: Ausgabe vom 30.09.2024, Seite 10 / Feuilleton
Rock

Auf der Abschussliste

Das Boxset »1976« würdigt Thin Lizzys Durchbruchsjahr
Von Frank Schäfer
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Hör gefälligst hin oder sterbe dumm: Phil Lynott von Thin Lizzy mit klarer Ansage

Mit der Trioformation hatten Brian Downey und Phil Lynott bereits einen Major-Deal gegen die Wand gefahren. Thin Lizzy sind live zwar ein Ereignis, aber ihr Label Decca will sie in den Charts sehen. Die Single »Whiskey in the Jar« geht gut, aber danach folgt einfach nichts mehr – und die Albumverkäufe enttäuschen nicht nur die Band. Gitarrist Eric Bell hat ohnehin die Nase voll, dass ständig jemand mit der Stoppuhr hinter ihm steht, damit seine Soli das Radioformat nicht sprengen, und so verschwindet er während der laufenden Tour. Der sehr talentierte Gary Moore springt kurzfristig ein, aber festspielen will der sich auch nicht, er strebt eine eigene Karriere als Gitarrenheld an.

Jetzt kommt Lynott auf die gar nicht so üble Idee, gleich zwei Gniedelfinger einzustellen. Das erste Duo mit John Cann und Andy Gee macht schon mal Hoffnung, aber erst die Leadgitarren-Dioskuren Scott Gorham und Brian Robertson lassen Thin Lizzy zu einer mehr als konkurrenzfähigen Hardrockformation reifen. Vertigo zeigt sich interessiert, aber das Label will Hits. Dummerweise bleiben die ersten beiden Versuche der neuen Formation, »Nightlife« und »Fighting«, kommerziell hinter den Erwartungen zurück. Folglich stehen Thin Lizzy schon wieder auf der Abschussliste. Das nächste Album muss zeigen, ob sie zu Höherem berufen sind.

Es liegt also kein geringer Druck auf der Band, als sie mit ihrem neuen Produzenten John Alcock im Januar 1976 die Ramport Studios beziehen, um »Jailbreak« einzuspielen. Die Stimmung ist entsprechend angespannt. Brian Robertson ist ein schottischer Quertreiber, außerdem trinkt er zu viel und verwandelt sich dann regelmäßig in einen Stinkstiefel. Es gibt aber auch genügend Reibungsfläche. Robertson präferiert eine gewisse Unverfälschtheit und Ruppigkeit im Sound, Lynott hingegen nimmt eine geschliffene Produktion gern in Kauf, wenn sie der Wahrheitsfindung dient und die Bandkasse füllt. Wegen »Running Back«, der ursprünglichen Singleauskopplung, bekommen sie sich richtig in die Haare, und man kann Robertson verstehen. Der windelweichen, übertrieben ranschmeißerischen Albumversion hört man Lynotts Angst vor dem letzten feuchten Händedruck des Labels tatsächlich an.

Ironischerweise wird das harte »The Boys Are Back in Town« ausgekoppelt. Das bringt ihnen die nötige Top-10-Platzierung, die auch »Jailbreak« mit sich zieht in die vorderen Chartregionen. Produzent Alcock macht einen guten Job und schafft es gerade bei den Heavy­nummern, die Gegensätze fruchtbar zu machen, also einen polierten Klang­rahmen zu etablieren, in dem sich die jungen Wilden an den Gitarren austoben können. Die bald zu ihrem Markenzeichen avancierenden Twin-Lead-Harmonien entwickeln hier erstmals ihre volle Durchschlagskraft.

Anschließend gehen Thin Lizzy für drei Monate auf US-Tour im Vorprogramm von Aerosmith, ZZ Top, Rush und überzeugen auf ganzer Linie. Die Höhe ihrer Abendgage verzehnfacht sich in kürzester Zeit. Sofort wird eine neue US-Tour anberaumt, als Support von Rainbow, aber dann steckt sich ausgerechnet ihr Frontman mit infektiöser Hepatitis an und braucht eine Auszeit. Um die Rekonvaleszenz zu nutzen, arbeitet Lynott im Krankenbett an neuem Material, und Mitte August nehmen sie bereits das nächste Album auf. Einmal mehr ist Alcock ihr Sonderbewacher in den Ramport Studios, und obwohl er angesichts der Eile einen Qualitätsverlust befürchtet, klingt »Johnny the Fox« wie eine nahtlose Fortführung von »Jailbreak«. Erneut punkten Thin Lizzy mit ihrer unschlagbaren Mischung aus elegischer Sanftmut und Heavyness. Sogar einen weiteren Singlehit haben sie im Gepäck – »Don’t Believe a Word«.

Das umfangreiche Boxset »1976« würdigt das Durchbruchsjahr in der Thin-Lizzy-Karriere mit remasterten Alben und allerlei Bonusmaterial. Die gerade in der Drittverwertungsbranche angesagten und also auch hier beigefügten »Atmos-Remixe« sind nicht nur überflüssig, sondern im Grunde ein Skandal. Sie ergänzen Gitarrenspuren oder tauschen im Fall von »Jailbreak« sogar den klassischen Auftaktakkord durch eine dummdreiste Anmoderation aus, als wären Kunstwerke bloße Verfügungsmasse. Dahinter steckt die irrige Annahme, man könnte solche Klassiker noch verbessern – oder, schlimmer fast, müsste sie dem jeweiligen Zeitgeist anpassen. Nein. Hörer und Hörerin haben sich gefälligst dem Werk anzudienen – und nicht andersherum. Wer dazu nicht in der Lage ist, muss halt dumm sterben. Du kannst sie nicht alle kriegen.

Relevanter sind die beiden CDs mit Outtakes, Demos, BBC-Sessions und Leftovers. Da gibt es einiges zu entdecken, das sehr schöne Instrumental »Brian’s Number« zum Beispiel, das dann womöglich die Arbeitsgrundlage für »Borderline« ist.

Überdies gibt es einen vollständigen Konzertmitschnitt aus Cleveland vom 11. Mai 1976, den der lokale Radiosender WMMS damals ins Programm genommen hat. Er offenbart eine agile, glänzend eingespielte Vorgruppe, die sich und das Publikum fordert. Wer sie hier gehört hatte, wusste bereits, dass sie bald als Headliner durch die Welt ziehen.

Thin Lizzy: »1976« (Universal)

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