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Aus: Ausgabe vom 27.09.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Venezuela

»Wir wissen um die Widersprüche«

Venezuela: Aufbau kommunaler Selbstbestimmung im Verhältnis zum Staat und der gemeinsame Kampf gegen den Imperialismus. Ein Gespräch mit Juan Lenzo
Von Ina Sembdner
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Comunas-Treffen zur »Stärkung des kommunalen Horizonts« im Juli 2023 in Calabozo

Sie sind Mitgründer des venezolanischen Gemeinschaftsfernsehsenders Tatuy TV und verantwortlich für die Kommunikation der Unión Comunera de Venezuela, dem nationalen Verband der chávistischen Kommunen. Was führt Sie nach Berlin?

Wir sind eine Brigade, die von der Unión Comunera organisiert wird, um Beziehungen zu europäischen linken Organisationen und sozialen Bewegungen aufzubauen, von den Kampferfahrungen anderer zu lernen und unsere Erkenntnisse beim Aufbau kommunaler Macht in Venezuela zu teilen. Wir waren im Baskenland, in mehreren Städten im Norden Spaniens, dann in Brüssel und Ostende in Belgien. Wir waren auch in den Niederlanden. Und nun sind wir hier.

Welche Erfahrungen haben Sie in Europa gemacht?

Mit vielen Organisationen stehen wir bereits durch Brigaden im Austausch, die den kommunalen Aufbau in Venezuela vor Ort kennengelernt haben. Den Besuch in Europa haben wir mit der Internationalen Versammlung der Völker koordiniert. Das ist eine Plattform, die mehr als 200 revolutionäre Organisationen aus der ganzen Welt zusammenbringt – insgesamt fast 30 Länder. Die Arbeit zielt darauf ab, gemeinsame Agenden zu entwickeln und Netzwerke der Solidarität mit der Bolivarischen Revolution zu knüpfen. Ich möchte eine Geschichte erzählen, die in den traditionellen Medien oft zensiert wird – die Geschichte des bolivarischen Volkes, das weiterhin gegen den Imperialismus und für den Aufbau des Sozialismus kämpft.

Die Wahlen und die Entwicklungen im Nachgang waren bestimmt oft ein Thema.

Ja, es war ein ständiger Punkt in den Konsultationen. Viele sind besorgt und haben ein großes Interesse an dem Thema. Die Organisationen stehen den Meinungsbildern der großen Medienkonzerne sehr kritisch gegenüber und wollen eine umfassendere Sicht auf das Geschehen haben, auch was die Komplexität der venezolanischen Demokratie betrifft. Diese beschränkt sich nicht nur auf die Abstimmung, sondern auf Tausende von Prozessen der Konsultation, Beteiligung und Beratung.

Ein guter Zeitpunkt zu erklären, wie die Unión daran beteiligt ist.

Die venezolanische Demokratie basiert auf kommunalen Bürgerversammlungen. Deren Räte bilden in ihrer Gesamtheit das, was wir die Comunas nennen. Dieser Prozess begann in den Jahren 2004, 2005 und 2006. Und er hat sich weiterentwickelt, mit Ausnahme von Zeiten, in denen die Krise in Venezuela den Fortschritt des kommunalen Prozesses beeinträchtigt und zurückgeworfen hat. Um dem entgegenzuwirken, wurde ab 2019 versucht, die kommunalen Strukturen zu verbinden. Aus diesem Prozess der Verbindung der verschiedenen kommunalen Erfahrungen und des Wiederaufbaus enstand die Unión Comunera. Am 4. März 2022 hielt sie ihren Gründungskongress ab, gerade findet den ganzen Monat über die erste nationale Konferenz statt. Ziel ist es, die politische Linie für die nächsten zwei Jahre zu diskutieren und die Struktur zu erneuern.

Der frühere Präsident Hugo Chávez hat den bolivarischen Prozess ins Rollen gebracht und die Idee der Comunas vorangetrieben. Sein Nachfolger Nicolás Maduro wird dahingehend deutlich kritischer gesehen. Wie bewerten sie die Entwicklung?

Wir erkennen an, dass die Regierung und Präsident Maduro selbst der Volksbewegung in den Jahren der Krise, als diese im Niedergang begriffen war, einen wichtigen Auftrieb gegeben haben. Im Juni dieses Jahres ernannte er mit Ángel Prado einen Kommunalisten zum Minister für die Comunas. Wir betrachten das als ein Vertrauensvotum und eine Unterstützung für die Bewegung. Er hat auch die Prozesse der nationalen Konsultation gefördert und dazu beigetragen, die Flamme ein wenig neu zu entfachen.

Wie ist allgemein das Verhältnis zwischen den Kommunen und dem venezolanischen Staat?

Hugo Chávez hat versucht, vom Staat aus revolutionäre Veränderungen und Umgestaltungen voranzutreiben. Der Comandante wollte einen Raum innerhalb des Staatsapparates öffnen und die politische Macht in die Hände des Volkes legen. Aber er sprach sich auch dafür aus, dass diese neue Macht, die von unten kommt, einen gewissen Grad an Autonomie haben sollte. Er ging davon aus, dass es sich um eine echte ­konstituierende Macht handeln würde, aus der eine neue Volksklasse hervorgehen würde. Er erkannte, dass wir zwar den Weg zum sozialistischen Aufbau eingeschlagen hatten, aber immer noch in einem halbkapitalistischen Modell lebten. Daher sah er die Kommune als eine potentielle Kraft, um die Macht des bürgerlichen Staates zu stürzen.

Die Beziehung zu dem vorherrschenden institutionellen Rahmen in Venezuela ist eine des Dialogs und der Zusammenarbeit, wenn wir Allianzen und Anknüpfungspunkte finden. Spannungen und Konflikte gibt es, wenn wir auf Hindernisse oder Gegner des gemeinschaftlichen Projekts stoßen.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Wir haben hier den Fall vom Genossen Oswaldo. Im Jahr 2019 beschlossen er und andere, Land zu retten, das in staatlichem Besitz war und privatisiert werden sollte. Also griffen die Comunas ein und retteten die Farm, was zu einem Konflikt mit einigen staatlichen Institutionen führte. Aber inmitten dieses Konflikts erhielten wir auch Solidarität und Unterstützung. Heute ist das Land in den Händen unserer Comunas-Mitglieder und wird produktiv genutzt.
Aber diese Spannungen sind ebenso von Dauer, wie die Räume des Dialogs und der Zusammenarbeit, etwa im Fall der Nationalen Volkskonsultation, wo der Staat in den Dienst des Gemeinschaftsprojekts gestellt wird. Konflikte entstehen durch konkrete Elemente wie Streitigkeiten über Land oder Produktionsmittel.

Wie sehen Sie den Druck, den vor allem der US-Imperialismus auf Ihr Land ausübt?

Wir sind uns absolut klar und bewusst, dass die Aggression nicht nur darauf abzielt, Maduro zu stürzen – die Idee des Chávismo und des Sozialismus soll verschwinden. Es gibt also eine Front der kommunikativen, diplomatischen und wirtschaftlichen Aggression, die auch die interne Gewalt finanziert. Deshalb setzen wir auf die Stärke der venezolanischen Volksorganisation in Verbindung mit dem Rest der sozialen, politischen und militärischen Kräfte. Wir artikulieren uns in einer antiimperialistischen Front. Sie haben versucht, die Revolution auszuhungern. Dennoch gelang es den venezolanischen Bauern, die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Auch das kommunale Projekt trug dazu bei, die Moral hochzuhalten. Wir sind uns also absolut im klaren über die Rolle, die wir spielen, und über die Möglichkeit, dass die Bedrohung zunehmen könnte.

Es gab auch Angriffe der organisierten Rechten auf Einrichtungen, Genossen und Führungspersonen in mehreren Kommunen. Unser Ansatz ist zwar, Konfrontation um jeden Preis zu vermeiden. Aber es besteht kein Zweifel, dass dies komplizierte Zeiten für unsere Gemeinschaftsorganisationen sind, weil sie in ihren eigenen Gebieten mit diesen Widersprüchen und der Aggression umgehen müssen, die von der Rechten angeführt oder koordiniert werden.

Nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Nachgang der Wahl scheint die Lage im Moment etwas ruhiger zu sein. Was erwarten Sie für die Zukunft?

Wir bestehen darauf, unsere Prozesse der Volksorganisation zu stärken und zu beschleunigen. Und wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um auch mit denen zusammenzuarbeiten, die bei den letzten Wahlen gegen uns gestimmt haben. Wir müssen unsere soziale Basis wiederherstellen und unser Gefüge neu aufbauen. Wir haben viele Herausforderungen vor uns, um dem kommenden imperialistischen Ansturm standhalten zu können, der sich noch verstärken wird, wenn Donald Trump die Wahlen in den USA gewinnen sollte. Irgendwie haben wir uns während des gesamten revolutionären Prozesses an die anhaltende und permanente Aggression gegen unsere Projekte gewöhnt. In Venezuela gibt es keine Gelegenheit für Langeweile.

Was entgegnen Sie jenen, die angesichts der jüngsten Entwicklungen mit ihrer Unterstützung für Venezuela hadern?

Nun gut. Was können wir sagen über Menschen, die immer noch ihren Beitrag zum bolivarischen revolutionären Prozess leisten und für seine Entwicklung eintreten wollen? Wir kämpfen immer noch für unsere Selbstbestimmung und unsere Souveränität. Wir lassen nicht zu, dass sich irgendeine ausländische Macht in die inneren Angelegenheiten, die uns als Volk betreffen, einmischt. Wir wissen um die Widersprüche, aber wir verfügen über ausreichend Kapazitäten und Instrumente, sie innerhalb unseres Landes zu bewältigen und zu lösen.

In Venezuela gibt es eine Bevölkerung, die sich weiterhin mit Tapferkeit und Würde gegen die imperialistische Aggression wehrt und auf dem gemeinsamen Weg zum Sozialismus beharrt. Inspiriert von den Ideen und dem politischen Ansatz des Comandante. Wir bitten nicht um automatische Solidarität. Aber wir bitten um Unterstützung für ein Volk, das kämpft und weiter Widerstand leistet. Und wir fordern den Imperialismus auf, die Finger von Venezuela zu lassen.Interview: Ina Sembdner

Macht von unten

Der zentrale Slogan des nationalen Verbandes der Kommunen, Unión ­Comunera, ist »Unabhängigkeit, Comuna und Sozialismus«. Das Emblem der Organisation stellt eine linke Faust dar, die auf die rechte Hand schlägt, inspiriert von dem Zeichen, das Hugo Chávez als Geste der Kampfbereitschaft verwendete. Derzeit umfasst die Unión mehr als 50 Gemeinden in 15 venezolanischen Bundesstaaten. Zentrale Bereiche sind nach eigenen Angaben Ausbildung, kommunale Wirtschaft und Produktion, Kommunikation, die Aktivierung und integrale Verteidigung des Territoriums. Der 2013 verstorbene Chávez bezeichnete die Comunas als »Keimzellen für den Aufbau des Sozialismus«.

Die erste Nationale Volkskonsultation wurde am 21. April in 4.500 Comunas durchgeführt. Zur zweiten am 25. August teilte Präsident Nicolás Maduro mit, dass 4.243 Projekte in den Bereichen Wasserversorgung, Straßen- und Wohnungsbau, Elektrizität, Gesundheit und Bildung aus der ersten Befragung genehmigt, und 67,9 Prozent davon bereits abgeschlossen worden seien. Im Bundesrat gab er die Zielmarke aus, bis zum Jahr 2028 die Zahl der Comunas auf 6.000 zu erhöhen. »Wir unternehmen alle Anstrengungen, aber Sie, die regionalen und kommunalen Verantwortlichen, können noch viel mehr tun, damit unsere Bürger in den 4.508 Comunas bei der Umsetzung der von ihnen genehmigten Projekte schneller vorankommen«, forderte Maduro. (si)

Juan Lenzo ist Mitgründer der Unión Comunera und reist aktuell mit seinen Genossen ­Oswaldo Hernández und Luis Guerrero (v.l.n.r.) im Namen seines Verbandes durch ­Europa.

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