Thüringer Hängepartie
Von Karim NatourDass Parlamentsdebatten in Ausnahmefällen spannend anzuschauen sind, mag abwegig klingen. Und doch: Am Donnerstag kam es bei der konstituierenden Sitzung des 8. Thüringer Landtags in Erfurt zu einem sehenswerten parlamentarischen Spektakel. Kurz nach der Eröffnung durch AfD-Alterspräsident Jürgen Treutler wurde die Sitzung mehrmals und für mehrere Stunden unterbrochen – noch bevor überhaupt die Tagesordnung festgelegt wurde. Nach über vier Stunden Streit stand die Anrufung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs durch die CDU-Fraktion. Am Sonnabend soll die Sitzung fortgeführt werden.
Anlass war die Frage, welche Partei zukünftig den Präsidenten des Landtags in Erfurt stellt. Traditionell schlägt die größte Fraktion einen Kandidaten vor, der üblicherweise vom Parlament zum Präsidenten gewählt wird. In diesem Fall ist das die AfD-Fraktion, die bei den Wahlen am 1. September 32,8 Prozent der Stimmen erhielt. Um einen AfD-Präsidenten zu verhindern, hatten CDU und BSW zuvor angekündigt, die Geschäftsordnung zu Beginn der Sitzung ändern zu wollen, so dass alle Fraktionen einen Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten vorschlagen können. Eine turbulente Sitzung war daher erwartet worden.
Nachdem Treutler die Sitzung um kurz vor 12 Uhr eröffnet hatte, stellte der parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Andreas Bühl, einen Geschäftsführungsantrag, zunächst die Beschlussfähigkeit des Parlaments feststellen zu lassen, was eine entsprechende Änderung der Geschäftsführung ermöglichen würde. Über diesen müsste laut Bühl unverzüglich abgestimmt werden. Treutler war anderer Auffassung und fuhr mit seiner Eröffnungsrede fort. »Die Wähler erwarten, dass wir Aufgaben würdevoll erfüllen, die uns die Verfassung stellt«, erklärte er mit Blick auf die Wahl des Landtagspräsidenten. Treutler berief sich dabei auf die bisherigen Gepflogenheiten. Dass die stärkste Fraktion den Präsidenten stelle, sei »verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht«.
Der AfD zufolge sei die Beschlussfähigkeit erst festzustellen, nachdem sich der Landtag konstituiert habe – und nachdem ein Landtagspräsident gewählt wurde. Im Ergebnis war das Parlament blockiert, die Sitzung geriet zur Paragraphenschlacht. Immer wieder kamen die parlamentarischen Geschäftsführer zusammen, um zu diskutieren, wie zu verfahren sei.
Die Abgeordneten der anderen Parteien beriefen sich hingegen auf das »Selbstorganisationsrecht des Parlaments«. Mit jeder Unterbrechung wurden die Debatte hitziger und die Zwischenrufe rauer. Sichtlich genervt warf der parlamentarische Geschäftsführer der CDU Bühl dem AfD-Alterspräsidenten eine Entmündigung des Parlaments vor. »Was Sie hier tun, ist Machtergreifung«, sagte Bühl. Später forderte er sogar den zweitältesten Abgeordneten auf, das Amt des Alterspräsidenten zu übernehmen.
Nach einer weiteren Unterbrechung schaltete sich Katja Mitteldorf (Die Linke) ein und rief dazwischen: »Sie sind Alterspräsident und haben nicht die Befugnisse des Landtagspräsidenten.« Die Fraktionsvorsitzende des BSW, Katja Wolf, nannte es eine »Katastrophe«, wie die AfD die »Demokratie am Nasenring durch die Manege« treibe. Im Anschluss trugen die Fraktionen ihre jeweilige Rechtsauffassung in bezug auf das weitere Vorgehen vor. Die Linksfraktion konstatierte »grobe Verstöße gegen die Verfassung«. Auch SPD, BSW und CDU beriefen sich auf die Thüringer Verfassung.
Treutlers Vorgehen stieß auch außerhalb des Parlaments auf vehemente Kritik. CDU-Chef Mario Voigt sagte der dpa, der Alterspräsident müsse unparteiisch und neutral handeln. Das sei nicht der Fall gewesen. Das Fachportal Verfassungsblog schrieb bei X, entscheidend sei die Verfassung des Freistaats, die dem Landtag Geschäftsordnungsautonomie gebe. Dieser könne »jederzeit – also auch vor der Wahl der Landtagspräsidentin – die Geschäftsordnung ändern bzw. eine neue beschließen«. Von einer »traurigen Hängepartie« und einem »beispiellosen Vorgang« sprach indes die einstige Landtagsvizepräsidentin Dorothea Marx (SPD), die die Sitzung im MDR live kommentierte.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (27. September 2024 um 06:59 Uhr)Ich habe diese Sitzung im Livestream verfolgt. Und (ich bin ja sehr selten mit der CDU einer Meinung) ich muss Herrn Bühl von der CDU rechtgeben: Es war der Versuch der Machtergreifung. Ähnliches gab es im Juli 1932 im Reichstag, was das endgültige Ende der Weimarer Republik bedeutete und Hitler an die Macht brachte. Das, was danach folgte, wissen wir. Das Herr Treutler (AfD) nur der Ausführende war, hat man an den ständigen Besuchen von Herrn Braga am Platz des Alterspräsidenten gezeigt. Hier wurden »Regieanweisungen«, die sicherlich von Höcke kamen, überbracht. Dabei hat die AfD alle Grenzen im höflichen Umgang von Menschen, und hier vor allem von gewählten Abgeordneten, überschritten. Allein schon der »gute Ton« ging ganz schnell die Gera runter. Ist das wirklich die »Alternative für Deutschland«? Hier zeigte der Faschismus wieder einmal öffentlich seine Fratze. Man kann nur hoffen, dass das Landesverfassungsgericht eine Lösung findet. Uns allen zeigt dieser Vorgang, was passiert wenn diese Leute das Sagen haben sollten. Und ich hoffe sehr, dass wenigstens einige AfD-Wähler sehen, welche Büchse der Pandora sie damit geöffnet haben. Doch was kann das für die Zukunft Thüringens bedeuten? Die AfD geht voll auf Blockade. Sie will erreichen, dass Thüringen unregierbar wird, baut vielleicht sogar auf Neuwahlen. Das darf der demokratische »Rest« im Landtag nicht zulassen. Die AfD muss politisch gestellt werden, man muss ihr die Grenzen zeigen. Dazu bedarf es einer respektvollen Zusammenarbeit von CDU, BSW, SPD und der Partei »Die Linke«. Nur so kann dieses Parlament und die zukünftige Landesregierung dieser »Alternative« zeigen, dass sie diese Alternative eben nicht ist, sondern ein Rückfall in die finstersten Zeiten Deutschlands. Und den anderen neu gewählten Landesparlamenten in Sachsen und Brandenburg muss das eine Warnung sein - der braune Mob marschiert.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (26. September 2024 um 22:13 Uhr)Es ist eine Binsenweisheit - es sollte zumindest eine sein - dass Macht Verantwortung in sich trägt und dementsprechend ausgeübt werden muss. Ob die Parlamentarier im Thüringer Landtag heute diesem Grundsatz entsprochen haben, ist zumindest zu diskutieren. Mit dem heute aufgeführten Spektakel dürften sie weder sich selbst, noch dem Ansehen der parlamentarischen Demokratie in Thüringen einen Gefallen getan haben. Der AfD so viel Wirkmächtigkeit zu unterstellen und sich selbst so wenig, dass man glaubt, der AfD den Vorsitz verbauen zu müssem, wird diese Partei für ihre Wähler nur noch interessanter machen.
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Leserbrief von Alex K. aus Hessen (26. September 2024 um 21:35 Uhr)Ich frage mich schon, warum man unbedingt mit der Brechstange die GO zu Beginn der konstituierenden Sitzung ändern wollte. Damit ist vor allem Herr Bühl über das Stöckchen gehüpft, dass ihm die AfD mit ihrem Alterspräsidenten hinhielt. Ergebnis: viel Klamauk. Warum hat man nicht die 'Rede' von Herrn Treutler ausgesessen, die zwei ersten Wahlgänge abgewartet und dann im dritten einen eigenen Kandidaten für den Landtagspräsidenten aufgestellt? Wäre nicht so unterhaltsam gewesen, man hätte etwas Sitzfleisch investieren müssen, aber der AfD wäre ihre Show weitestgehend verlustig gegangen. Die Regierungsbildung wird ja vermutlich eh noch etwas dauern.
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