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Aus: Ausgabe vom 27.09.2024, Seite 4 / Inland
Chaos im Landtag

Thüringer Hängepartie

Konstituierende Sitzung des Landesparlaments abgebrochen. Stundenlange Pausen verhindern Präsidentenwahl
Von Karim Natour
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Immer wieder unterbrach Alterspräsident Jürgen Treutler (AfD) am Donnerstag die Sitzung des Landtags in Erfurt

Dass Parlamentsdebatten in Ausnahmefällen spannend anzuschauen sind, mag abwegig klingen. Und doch: Am Donnerstag kam es bei der konstituierenden Sitzung des 8. Thüringer Landtags in Erfurt zu einem sehenswerten parlamentarischen Spektakel. Kurz nach der Eröffnung durch AfD-Alterspräsident Jürgen Treutler wurde die Sitzung mehrmals und für mehrere Stunden unterbrochen – noch bevor überhaupt die Tagesordnung festgelegt wurde. Nach über vier Stunden Streit stand die Anrufung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs durch die CDU-Fraktion. Am Sonnabend soll die Sitzung fortgeführt werden.

Anlass war die Frage, welche Partei zukünftig den Präsidenten des Landtags in Erfurt stellt. Traditionell schlägt die größte Fraktion einen Kandidaten vor, der üblicherweise vom Parlament zum Präsident gewählt wird. In diesem Fall ist das die AfD-Fraktion, die bei den Wahlen am 1. September 32,8 Prozent der Stimmen erhielt. Um einen AfD-Präsidenten zu verhindern, hatten CDU und BSW zuvor angekündigt, die Geschäftsordnung zu Beginn der Sitzung ändern zu wollen, so dass alle Fraktionen einen Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten vorschlagen können. Eine turbulente Sitzung war daher erwartet worden.

Nachdem Treutler die Sitzung um kurz vor 12 Uhr eröffnet hatte, stellte der parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Andreas Bühl, einen Geschäftsführungsantrag, zunächst die Beschlussfähigkeit des Parlaments feststellen zu lassen, was eine entsprechende Änderung der Geschäftsführung ermöglichen würde. Über diesen müsste laut Bühl unverzüglich abgestimmt werden. Treutler war anderer Auffassung und fuhr mit seiner Eröffnungsrede fort. »Die Wähler erwarten, dass wir Aufgaben würdevoll erfüllen, die uns die Verfassung stellt«, erklärte er mit Blick auf die Wahl des Landtagspräsidenten. Treutler berief sich dabei auf die bisherigen Gepflogenheiten. Dass die stärkste Fraktion den Präsidenten stelle, sei »verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht«.

Der AfD zufolge sei die Beschlussfähigkeit erst festzustellen, nachdem sich der Landtag konstituiert habe – und nachdem ein Landtagspräsident gewählt wurde. Im Ergebnis war das Parlament blockiert, die Sitzung geriet zur Paragraphenschlacht. Immer wieder kamen die parlamentarischen Geschäftsführer zusammen, um zu diskutieren, wie zu verfahren sei.

Die Abgeordneten der anderen Parteien beriefen sich hingegen auf das »Selbstorganisationsrecht des Parlaments«. Mit jeder Unterbrechung wurden die Debatte hitziger und die Zwischenrufe rauer. Sichtlich genervt warf der parlamentarische Geschäftsführer der CDU Bühl dem AfD-Alterspräsidenten eine Entmündigung des Parlaments vor. »Was Sie hier tun, ist Machtergreifung«, sagte Bühl. Später forderte er sogar den zweitältesten Abgeordneten auf, das Amt des Alterspräsidenten zu übernehmen.

Nach einer weiteren Unterbrechung schaltete sich Katja Mitteldorf (Die Linke) ein und rief dazwischen: »Sie sind Alterspräsident und haben nicht die Befugnisse des Landtagspräsidenten.« Die Fraktionsvorsitzende des BSW, Katja Wolf, nannte es eine »Katastrophe«, wie die AfD die »Demokratie am Nasenring durch die Manege« treibe. Im Anschluss trugen die Fraktionen ihre jeweilige Rechtsauffassung in bezug auf das weitere Vorgehen vor. Die Linksfraktion konstatierte »grobe Verstöße gegen die Verfassung«. Auch SPD, BSW und CDU beriefen sich auf die Thüringer Verfassung.

Treutlers Vorgehen stieß auch außerhalb des Parlaments auf vehemente Kritik. CDU-Chef Mario Voigt sagte der dpa, der Alterspräsident müsse unparteiisch und neutral handeln. Das sei nicht der Fall gewesen. Das Fachportal Verfassungsblog schrieb bei X, entscheidend sei die Verfassung des Freistaats, die dem Landtag Geschäftsordnungsautonomie gebe. Dieser könne »jederzeit – also auch vor der Wahl der Landtagspräsidentin – die Geschäftsordnung ändern bzw. eine neue beschließen«. Von einer »traurigen Hängepartie« und einem »beispiellosen Vorgang« sprach indes die einstige Landtagsvizepräsidentin Dorothea Marx (SPD), die die Sitzung im MDR live kommentierte.

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