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Aus: Ausgabe vom 27.09.2024, Seite 8 / Ansichten

Letzte rote Linie

Nuklearstrategie Russlands
Von Jörg Kronauer
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Ein Warnradar für Langstreckenraketen der »Woronesch M«-Klasse in der Region Irkutsk

Eine echte Überraschung war es nicht. Dass Russland seine Kriterien für einen Einsatz von Atomwaffen anpassen könnte, das war bereits seit längerer Zeit im Gespräch. Der Grund liegt auf der Hand. Das Szenario, das der gültigen russischen Nukleardoktrin zugrunde liegt, ist ein Krieg gegen eine oder mehrere andere Atommächte. Die Doktrin legt fest, wann in einem solchen Krieg der Griff zur Bombe erfolgen solle – dann, wenn Russland selbst nuklear angegriffen werde oder wenn seine staatliche Souveränität, sein Fortbestand, grundsätzlich in Frage gestellt sei. Was aber, wenn man Krieg gegen ein Land führt, das keine Atomwaffen besitzt, das jedoch von Atomwaffenstaaten mit beinahe allen erdenklichen Waffen aufgerüstet wird? Wenn die NATO faktisch ihren Waffenpark in die Ukraine verfrachtet und ihn einfach von ukrainischen Soldaten bedienen lässt, stets haarspalterisch betonend, rein formal betrachtet sei man doch gar nicht mit Russland im Krieg?

Wie sehr da die Linien – gerade auch die roten – zu verschwimmen beginnen, das konnte man im Mai erkennen. Damals attackierte die Ukraine zwei Radaranlagen mitten in Russland, die zum russischen Frühwarnsystem gegen Atomangriffe gehören. In einem Krieg gegen eine Atommacht, das räumten in den Tagen danach auch westliche Militärs ein, könnte eine solche Attacke auf das Frühwarnsystem laut den gültigen russischen Bestimmungen einen atomaren Schlag auslösen – und zwar ganz einfach, weil sie geeignet ist, Russlands Abwehr gegen einen Atomangriff auszuhebeln. Die Ukraine hat mehrmals auch den Militärflugplatz Engels-2 angegriffen, auf dem strategische Bomber mit der Fähigkeit zum nuklearen Gegenschlag stationiert sind. Was, wenn die NATO-Staaten die Ukraine nun auch mit weitreichenden westlichen Raketen ausstatten? Kann man sicher sein, dass Kiew nicht – in Zusammenarbeit mit den Atommächten der NATO – auch weiterhin die Zweitschlagfähigkeit der russischen Nuklearstreitkräfte aufs Korn nehmen, Moskau also seiner nuklearen Verteidigungsfähigkeit berauben wird?

Es stimmt: Das sind Spekulationen. Nur: Sie sind, siehe die Angriffe auf das russische Frühwarnsystem, keineswegs unbegründet. Weitere Attacken auf die russische Zweitschlagfähigkeit sind also durchaus denkbar; in nuklearen Fragen aber zählt nur Gewissheit. Um den Bereich abzugrenzen, den sie zur Gewährleistung ihrer Sicherheit für absolut unverzichtbar halten, markieren Staaten üblicherweise rote Linien. Russland hat das bereits getan; es hat bekräftigt, dass es solche Angriffe, an denen sich westliche Militärs beteiligen müssten, als Kriegseintritt der entsprechenden Staaten werten wird. Die Anpassung der Bestimmungen über einen etwaigen russischen Atomeinsatz vollzieht das nun auf nuklearer Ebene nach. Diese letzte rote Linie haben die NATO-Staaten nun schriftlich. Ob sie sie einhalten, weiß man freilich nicht.

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  • Leserbrief von Michael (27. September 2024 um 17:17 Uhr)
    Es geht Russland dabei auch darum, dass seine Atomkraftarsenale von Raketen, die mit nicht-atomaren Gefechtsköpfen bestückt sind, angegriffen und ihrer Wirkung beraubt werden. Das ist das Ziel der in Deutschland demnächst aufzustellenden Raketen. Damit wäre im Fall, dass eine solcher Angriff durchgeführt würde, der Einsatz der russischen Atomraketen notwendig. Dasselbe gilt, wenn die Ukraine mit konventionellen Waffen diese Arsenale angreifen würde. - Das hat Putin deutlich gemacht. »Die Kernaufgabe dieser Waffengattung ist es also, die ‚Anti-Access/Area Denial‘-Kapazität Russlands zu überwinden. In diesen Waffen manifestiert sich der Entschluss des westlichen Militärbündnisses, Russland die Fähigkeit zu nehmen, sich und seinen Bestand konventionell zu verteidigen; sie entwerten obendrein die atomare Abschreckungsmacht Russlands. Bei allen Typen dieser konventionellen Mittelstreckenraketen, die nur schwer abgefangen werden können, sind die Vorwarnzeiten erheblich reduziert, und insbesondere die neuen Hyperschallraketen versetzen die NATO in die Lage, entwaffnende Präzisionsschläge auch gegen das Nuklearwaffenarsenal der Russen durchzuführen – was das Risiko des Beginns eines nuklearen Vernichtungskriegs drastisch erhöht; die Fachwelt spricht von einem «erhöhten Anreiz» wegen des «use ’em or lose ’em»-Szenarios.« (GS 3/24).
  • Leserbrief von Bernd Trete aus Potsdam (27. September 2024 um 06:00 Uhr)
    Nun - mir scheint, die Nato und die anderen für die Ukraine »Verantwortlichen« wollen nicht, dass der Krieg zu ende geht. Und es wird die Frage aufgeworfen: Wer kann was dagegen haben. Das erinnert mich an den Feldprediger im Gespräch mit Mutter Courage (Mutter Courage und ihre Kinder). Die Russische Föderation hat reagiert. Es bleibt zu hoffen, dass Russlands Reaktion Beachtung findet. Am 3. Oktober Zeichen setzen in Berlin.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (26. September 2024 um 21:01 Uhr)
    Der kollektive Westen hat die Zurückhaltung und die Tatsache, dass Russland das Übertreten aller bisher gezogenen roten Linien ohne Konsequenzen hingenommen hat, als Schwäche interpretiert. Das sind die Gründe, warum Hobbystrategen und durchaus auch Militärs nicht müde werden, Angriffe auf das russische Hinterland zu fordern. Nun hat die russische Führung daraus den Schluss gezogen, dass die letzte verbliebene rote Linie genauer definiert und die Folgen deren Übertretung neu festgelegt ist. Wenn also dem Verrückten, der in Kiew als Handlanger der USA herumgeistert, die Erlaubnis erteilt wird, Russlands Nuklearverteidigung anzugreifen, dann könnte die Stunde Null für diese Welt gekommen sein. Das sollte man diesseits und jenseits des Atlantiks verstanden haben.

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