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Aus: Ausgabe vom 27.09.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Bitte um Vergebung

Das Berliner Haus der Kulturen der Welt zeigt eine Ausstellung zum Thema Überschreitungen
Von Stefan Heidenreich
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Victor Ehikhamenor: The Penance Room (2024)

Selten ist ein Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen vom Publikum im Haus der Kulturen der Welt so frostig empfangen worden wie bei der Ausstellung »Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld«. Der Abgeordnete Andreas Audretsch hatte die Aufgabe übernommen, zur Eröffnung am 13. Juli eine Begrüßungsrede zu halten. Es war dieselbe Woche, in der die Regierungskoalition unter Beteiligung der Grünen eine Reihe migrationsfeindlicher Vorhaben durchgewinkt hatte. Das kommt bei einem Publikum, das sich doch zum großen Teil aus Grünen-Wählern und Menschen internationaler Herkunft zusammensetzt, extrem schlecht an. Mehrmals waren erregte Zwischenrufe im Saal zu hören: »Warum machen Sie die Scheiße mit?«

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Andrew Tshabangu: Bridges (1995–2016)

Effekte der Zensur

Die von Cosmin Costinaş und Paz Guevara kuratierte Ausstellung ist sehenswert. Es gibt etliche gute und beeindruckende künstlerische Arbeiten. Dazu zählt etwa das Video »Familiar Phantoms«, das die aus Ostjerusalem stammende Künstlerin Larissa Sansour zusammen mit Søren Lind realisiert hat. Der Film schildert den Verlust der Heimat in Palästina in einem sehr persönlichen Blick auf Momente der Familiengeschichte. In einer intimen und einfühlsamen Erzählweise gibt er mit wenigen sparsamen Bildern einen lebhaften Eindruck existenzieller Zerrissenheit wieder. Es ist kein Blick von außen, sondern von innen auf Flucht und Verlust.

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Mansour Ciss Kanakassy: Detail der Installation »Le Laboratoire de Déberlinisation. Fabrique du Futur« (2024)

Eine weitere erwähnenswerte Arbeit hat der aus Senegal stammende Künstler Mansour Ciss Kanakassy beigetragen. Mit Bezug auf die Berliner Konferenz des Jahres 1884, bei der die europäischen Mächte Afrika unter sich aufteilten, schlägt er als Teil seines Langzeitvorhabens »Laboratoire de Déberlinisation« eine Zukunftsfabrik vor. Sie materialisiert sich in der Ausstellung als ein Kiosk, in dem Euros in die fiktive Währung Afro umgetauscht werden können. Parallel dazu erläutert der Ökonom Ibrahima Sene, welche wirtschaftlichen Nachteile der an den Euro gebundene CFA-Franc bis heute bedingt. Seit sich die Sahelstaaten einschließlich Senegal von Europa abgewendet haben, bekommt diese Arbeit eine politische Aktualität, die in der Ausstellung aber nicht unbedingt sichtbar wird. Fündig wird man dagegen im Reader. Dort setzen sich gleich mehrere Autoren mit der bis heute andauernden Ausbeutung des afrikanischen Kontinents auseinander, etwa am Beispiel der Proteste in Kenia und der antiwestlichen Umwälzungen in Mali und Niger.

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Dorothy Iannone: Flora and Fauna (1973)

Die meisten anderen Arbeiten halten größere Distanz zu politischen Fragen. Es ist ja wahr: Wem es um Politik geht, der fragt Kunst selten nach Auskunft. Und wem es um Kunst geht, der will nicht unbedingt politische Botschaften hören. Rein ästhetisch gesehen ist die Ausstellung sehr gelungen. Das beginnt bei der Architektur. Für das alte Problem des schwierigen großen Ausstellungsraums findet sie eine überraschende Lösung, indem zwei klobige, große, schwarze Videoverhaue als Unterbrecher den Raum teilen. Das löst die unbrauchbare Halle in viele rundherum gelagerte Ausstellungsplätze auf. Das Spektrum der gezeigten Arbeiten reicht von Malerei bis Medien, vom Status der Gastarbeiter bis zu queeren Performances.

Es hätte reichlich Gelegenheiten gegeben, von den künstlerischen Arbeiten Verbindungen zur aktuellen geopolitischen Lage zu ziehen. Damit aber wäre die Ausstellung in heikles Fahrwasser geraten. Seit Gesinnungsprüfung und Zensur im kulturellen Feld wieder Einzug halten, in Berlin verschärft unter dem CDU-Senator Joe Chialo, mit Beifall von den Grünen bis zur AfD, ist Künstlern und Kuratoren in aller Deutlichkeit klargeworden, dass Kunstfreiheit hierzulande ihre Grenzen hat – und zwar deutlich engere als in benachbarten Ländern. In dem Zusammenhang bekommt der Ausstellungstitel eine doppelte Bedeutung. »Forgive Us Our Trespasses«, vergebt uns unsere Übertretungen, ihr Funktionäre und Vertreter von Kulturgremien und Zentralräten, falls wir doch etwas Verbotenes gesagt und gezeigt haben sollten. Als postkoloniale Diskursbude steht das Haus der Kulturen der Welt unter besonderer Beobachtung amtlicher Stellen. Schließlich wird die gesamte internationale Kunstwelt hierzulande pauschal der Palästina-Freundlichkeit und des Antisemitismus verdächtigt, und tatsächlich findet man dort wohl nicht besonders viele Unterstützer der Kriegsverbrechen, über die in Den Haag unter dem Verdacht des Völkermords verhandelt wird. Die Chill-Effekte der politischen Zensur sind deutlich zu spüren. Aufrufe zum Widerstand sind ausgeschlossen. Das Zeigen von Leid ist zulässig, noch. Schon gibt es Bestrebungen, soziale Plattformen wie Tik Tok zu verbieten, um auch das zu unterbinden. Herausgekommen ist deshalb eine zaghafte Ausstellung, die sich bemüht, auf Linie der sogenannten Staatsräson zu bleiben. Vielleicht also genau das, was die repressiven Maßnahmen der Kulturbehörden bezwecken sollen.

Schuld und Schulden

Auf eine weitere offene Frage weist der Titel hin. Trespassing und Schuld sind zwei verschiedene Dinge. Die schräge Übersetzung geht auf den Urtext des Vaterunsers zurück. Dort steht in der lateinischen Fassung »debita«, also Schulden. So gesehen handelt es sich bei beiden Versionen um Übersetzungsfehler. Wie der US-Ökonom Michael Hudson ausführt, ging es bei dem Gebet ursprünglich weder um Schuld noch um Übertretung, sondern ebenso schnöde wie revolutionär um den Erlass finanzieller Schulden. Von solch aufrührerischen Praktiken hat das Christentum längst Abstand genommen. Als es darum ging, die Oligarchen Roms auf die Seite der neuen Religion zu ziehen, erklärte der Kirchenvater Augustinus die Schulden kurzerhand zu Sünden und löschte damit ihre ökonomische Bedeutung. Dass Schulden eingesetzt werden, um Knechtschaft zu erzwingen, damals wie heute, hätte zum Thema der Ausstellung gut gepasst, wäre aber in oligarchischen Staatswesen, damals wie heute, kaum gut gelitten. So geht vielleicht zu erklären, warum die Ausstellung die wirtschaftliche Seite ihres Titels weitgehend beiseite lässt.

»Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld. Von (un)wirklichen Grenzen, (Un)Moral und anderen Überschreitungen«, bis 8. Dezember 2024, Haus der Kulturen der Welt, Berlin

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