Wolle und die Jugend
Von Felix BartelsIrgendwie ist die Luft raus bei den beiden. Hatte der gute Thierse einst noch – kurz vor, während und etwas nach 89 – das Ungestüm der Jugend befeuert, immer kritisch sein, nie angepasst, nicht bloß denken, was von oben kommt, scheint er heute längst vom Dampfer gefallen. Als alter weißer Mann wolle Wolle sich nicht in die Ecke stellen lassen, schrieb er vor drei Jahren etwas umwegig nieder.
Fast kann man ihn verstehen. Die Gen Z ist wirklich verlottert, wie eine Generation bloß sein kann. Selfcare geht diesen Grashüpfern über alles, die nicht verstehen, dass auch sie was abzuliefern haben und es nie nur darum geht, was sie denn hier geboten kriegen. Sie schaffen, dir ins Gesicht zu sagen, ihr Bedürfnis habe absolute Priorität, und zugleich gekränkt zu sein, wenn das Gegenüber ihr Bedürfnis nicht ebenfalls nach oben setzt. Das Leben allerdings hat noch jede Generation irgendwann irgendwie hinbekommen. Der alte Mann allein steht am Rande und versteht das Leben nicht mehr, er mag Nuhr oder Gottschalk, Sloterdijk oder eben Thierse heißen.
Nun hat der Adoleszenzkritiker erneut zugeschlagen. Mit Blick auf die hohen Zustimmungswerte der AfD bei jungen Erwachsenen in den östlichen Bundesländern verriet Thierse dem Tagesspiegel: »Was ist in der Erziehung in Elternhäusern und Schulen schiefgelaufen? Die politische Bildung und die Aufklärung, wie Demokratie funktioniert, hat hier versagt.«
Aufgemerkt nun also, riefe Professor Unrat jetzt von der Seite. Dem Mann, dem die oberlehrerhafte Gängelei der DDR-Gesellschaft eigenen Angaben zufolge ein Graus war, kann der Staatsbürgerkundeunterricht heute gar nicht lang genug dauern. Am liebsten sähe er ihn noch auf den Abendbrottisch ausgedehnt. Die AfD-Jugend von heute ist einfach nicht intensiv genug indoktriniert worden. Dass die Hinwendung junger Ostdeutscher zur AfD möglicherweise etwas mit dem Aufwachsen in entsiedelten, deindustrialisierten, infrastrukturell und kulturell kahlgeschorenen Landstrichen zu tun haben könnte, Oasen der Hoffnungslosigkeit, an denen der real existierende Kapitalismus in den letzten drei Jahrzehnten akribisch gebaut hat, kommt Thierse nicht in den Sinn. Das passt ja auch nicht ins geläufige Muster, demnach die höhere Zustimmung der AfD im Osten ein ideologisch-psychologisches Erbe der DDR und nicht etwa Ausdruck sozial-kultureller Gegenwartsverhältnisse sei. Ob der Umstand, dass Thierse das alles für ein Erziehungsproblem hält, selbst ein Erziehungsproblem ist? Man sollte sich dringend mal mit seinen Eltern unterhalten.
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Die Luft scheint raus, umso mehr als die einstigen Helden, Bürgerrechtler, selbsternannten friedlichen Revolutionäre, wo sie sich heute noch zu Wort melden, offene Briefe verfassen, in aller Peinlichkeit alles vergessen haben, was sie selbst einst auf ihren Fahnen gegen DDR und Sozialismus in die Welt getragen haben. Was ist schiefgelaufen bei der Erziehung der Jugend, fragt ein Thierse. Könnte und müsste er es nicht bestens wissen, wenn eine Jugend, selbst politische Jugend, sich gerade zunehmend abwendet von dieser politischen Klasse?
Jahrzehnte ein einseitig, penetrantes DDR-Bild malen, in die Köpfe zu hämmern versuchen, das arbeitet sich ab und hat mit Erfahrungen, Erleben der Mehrheit der DDR-Bürger nichts zu tun. Immer weniger sind bereit, gefallsüchtig das Lied von den westlichen Freiheits- und Demokratiewerten mitzusingen. Was verwundern sich die Thierses und Co, wenn große Teile der Jugend sich politisch bei einer AfD orientieren, die es versteht, eine verständliche Sprache zu sprechen. Was wundert sich Thierse und Co, warum fragen sie sich nicht selbst, wie sie antifaschistisch erzieherisch auf die Menschen eingewirkt haben. Wer eben Jahrzehnte nur hysterisch dem Feindbild DDR folgt, Hass, Lügen, Hetze verbreitet, der erntet heute die Ergebnisse der eigenen Politik.